Schande
atmenden Welt , [5]
Ein irrender Geist, der in den Abgrund fällt,
Ein Ding mit düstrer Phantasie, das gern sich die Gefahr
Ausmalt, der es durch Glück entgangen war.«
Wer möchte diese Verse für mich kommentieren? Wer ist dieser ›irrende Geist‹? Warum nennt er sich ›ein Ding‹?
Aus welcher Welt kommt er?«
Längst hat er aufgehört, sich über das Ausmaß der Unwissenheit bei seinen Studenten zu wundern. Postchristlich, posthistorisch, postliterarisch, wie sie sind, hätten sie gestern aus dem Ei geschlüpft sein können. Er erwartet also nicht, daß sie etwas über gefallene Engel wissen oder welche Quellen Byron dafür gehabt haben könnte. Er erwartet aber doch eine Anzahl gutwilliger Vermutungen, die er mit etwas Glück dem Ziel annähern kann. Aber heute trifft er auf Schweigen, ein verstocktes Schweigen, das sich spürbar um den Fremden in ihrer Mitte herum bildet. Sie wollen nicht reden, sie wollen nicht auf sein Spiel eingehen, solange es einen fremden Zuhörer gibt, der urteilt und verspottet.
»Luzifer«, sagt er. »Der aus dem Himmel gestürzte Engel. Wir wissen wenig darüber, wie Engel leben, aber wir können vermuten, daß sie keinen Sauerstoff brauchen.
Zu Hause braucht Luzifer, der dunkle Engel, nicht zu atmen. Plötzlich ist er in unsere seltsame, ›atmende Welt‹ verbannt. ›Irrend‹: ein Wesen, das seinen eigenen Weg geht, das gefährlich lebt, auch für sich selbst Gefahren heraufbeschwört. Lesen wir weiter.«
Der junge Mann hat nicht ein einziges Mal in den Text geschaut. Statt dessen nimmt er seine Worte auf, mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen, einem Lächeln, das – vielleicht – ein wenig belustigt scheint.
» Zu hoch für niedre Selbstsucht, gab er wohl
Manchmal sein eignes hin für andrer Wohl,
Doch nicht aus Mitleid, nicht weil Pflicht ihn zwang,
Nein, ein verkehrter, rätselhafter Drang
Trieb fort ihn, mit geheimem Übermut,
Zu tun, was außer ihm kein andrer tut –
Ein Hang, der, wenn Versuchung zu ihm trat,
Auch ebenso ihn trieb zu böser Tat.
Was für ein Wesen ist also dieser Luzifer?«
Inzwischen müssen die Studenten die Spannung mitbekommen haben, die zwischen ihm und dem jungen Mann existiert. Nur an ihn hat sich die Frage gerichtet; und wie ein zum Leben erweckter Schläfer antwortet der junge Mann. »Er tut, wonach ihm zumute ist. Es ist ihm egal, ob es gut oder böse ist. Er tut es einfach.«
»Genau. Gut oder böse, er tut es einfach. Er handelt nicht nach einem Prinzip, sondern impulsiv, und woher seine Impulse kommen, weiß er nicht. Lesen Sie ein paar Verse weiter: ›Sein Wahnsinn saß im Herzen, nicht im Hirn.‹ Ein wahnsinniges Herz. Was ist ein wahnsinniges Herz?«
Er verlangt zu viel. Der junge Mann möchte seiner Intuition weiter folgen, das sieht er. Er möchte zeigen, daß sein Horizont über Motorräder und auffällige Sachen hinausreicht. Und vielleicht ist das auch so. Vielleicht weiß er wirklich etwas darüber, was es bedeutet, ein wahnsinniges Herz zu haben. Aber hier, in diesem Seminarraum, vor diesen fremden Menschen, wollen die Worte nicht kommen. Er schüttelt den Kopf.
»Macht nichts. Ich weise daraufhin, daß wir nicht aufgefordert werden, dieses Wesen mit dem wahnsinnigen Herzen zu verdammen, dieses Wesen, mit dem konstitutionell etwas nicht stimmt. Im Gegenteil, wir werden aufgefordert, Verständnis zu zeigen und Mitleid. Aber es gibt eine Grenze für das Mitleid. Denn obwohl er unter uns lebt, ist er nicht einer von uns. Er ist genau das, als was er sich ausgibt: ein Ding, das heißt, ein Unmensch. Letztlich ist es nicht möglich, ihn zu lieben, will Byron sagen, nicht im tieferen, menschlichen Sinn des Wortes. Er wird zur Einsamkeit verdammt sein.«
Mit geneigten Köpfen schreiben sie seine Worte eifrig mit. Byron, Luzifer, Kain – ihnen ist das alles egal.
Sie schließen das Gedicht ab. Er gibt die ersten Cantos des »Don Juan« als Aufgabe und beendet das Seminar zeitig. Über ihre Köpfe ruft er ihr zu: »Melanie, kann ich Sie kurz sprechen?«
Hohlwangig, erschöpft steht sie vor ihm. Wieder fliegt ihr sein Herz entgegen. Wenn sie allein wären, würde er sie umarmen und versuchen, sie aufzuheitern. Mein Täubchen, würde er sie nennen. »Wollen wir in mein Zimmer gehen?« sagt er statt dessen.
Mit dem Freund im Schlepptau folgt sie ihm die Treppe hinauf zu seinem Zimmer. »Warten Sie hier«, sagt er
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