Schande
ist.
Melanie hätte von sich aus einen solchen Schritt nicht getan, davon ist er überzeugt. Sie ist dafür zu unschuldig, kennt ihre Macht nicht. Er muß dahinterstecken, der kleine Mann in dem schlecht sitzenden Anzug, er und Cousine Pauline, die Unattraktive, die Anstandsdame. Sie müssen ihr das eingeredet haben, sie bearbeitet haben, und dann sind sie schließlich mit ihr zum Studentensekretariat marschiert.
»Wir wollen eine Anzeige erstatten«, müssen sie gesagt haben.
»Eine Anzeige? Was für eine Anzeige?«
»Es ist eine Privatangelegenheit.«
»Wegen sexueller Belästigung«, würde Cousine Pauline eingeworfen haben, während Melanie verlegen dabeistand
– »gegen einen Professor.«
»Gehen Sie zum Raum soundso.«
Im Raum soundso würde er, Isaacs, dann kühner. »Wir wollen eine Anzeige erstatten gegen einen Ihrer Professoren.«
»Haben Sie sich das gut überlegt, wollen Sie das wirklich tun?« würden sie antworten, gemäß den Vorschriften.
»Ja, wir wissen, was wir wollen«, würde er sagen und seine Tochter herausfordernd anschauen.
Ein Formular muß ausgefüllt werden. Das Formular wird vor sie hingelegt, dazu ein Stift. Eine Hand nimmt den Stift, eine Hand, die er geküßt hat, eine Hand, die ihm vertraut ist. Zuerst der Name der Klägerin: MELANIE ISAACS in sorgfältigen Druckbuchstaben. Zitternd wandert die Hand den Block von Kästchen hinunter auf der Suche nach der Stelle, wo sie ankreuzen muß. Da, zeigt der nikotingefärbte Finger des Vaters. Die Hand wird langsamer, läßt sich herab, macht ihr X, ihr rechtschaffenes, Kreuz: J’accuse. Dann eine Lücke für den Namen des Angeklagten. DAVID LURIE, schreibt die Hand: PROFESSOR. Zuletzt noch unten auf dem Blatt das Datum und ihre Unterschrift: die Arabeske des M , das l mit der kühnen Schlinge oben, der Riß von oben nach unten des I , der Schnörkel des Schluß- s .
Es ist vollbracht. Zwei Namen auf dem Blatt, sein Name und ihr Name, Seite an Seite. Zwei in einem Bett, nicht mehr Liebende, sondern Feinde.
Er ruft das Sekretariat des Prorektors an und bekommt einen Termin für um fünf, außerhalb der Sprechstunde.
Um fünf wartet er im Korridor. Aram Hakim, schlank und jugendlich, taucht auf und bittet ihn herein. Es sind schon zwei Leute im Zimmer: Elaine Winter, geschäftsführende Direktorin seines Fachbereichs, und Farodia Rassool von den Sozialwissenschaften, Vorsitzende des Universitätsausschusses gegen Diskriminierung.
»Es ist spät, David, wir wissen, warum wir hier sind«, sagt Hakim, »wir wollen also gleich zur Sache kommen.
Wie können wir diese Angelegenheit am besten angehen?«
»Du kannst mich über die Anzeige aufklären.«
»Gut. Wir sprechen über eine Anzeige, die von Frau Melanie Isaacs erstattet wurde. Und auch über« – er sieht Elaine Winter an – »einige vorangegangene Unregelmäßigkeiten im Zusammenhang mit Frau Isaacs. Elaine?«
Das ist das Stichwort für Elaine Winter. Sie hat ihn nie gemocht; sie sieht in ihm ein Relikt der Vergangenheit, je schneller entsorgt, desto besser. »Es gibt eine Frage, was Frau Isaacs Seminarteilnahme angeht, David. Nach ihrer Aussage – ich habe mit ihr telefoniert – hat sie letzten Monat nur zwei Seminare besucht. Wenn das stimmt, hätte das gemeldet werden müssen. Sie hat auch gesagt, daß sie die Semester-Klausur nicht mitgeschrieben hat.
Doch nach deinen Unterlagen« – sie schaute in das Dokument vor ihr – »hat sie regelmäßig teilgenommen, und ihre Klausur ist mit 70 bewertet worden.« Sie sieht ihn forschend an. »Wenn es also nicht zwei Melanie Isaacs gibt ...«
»Es gibt nur eine«, sagt er. »Ich habe keine Entschuldigung.«
Geschmeidig greift Hakim ein. »Meine Freunde, jetzt ist nicht die Zeit oder der Ort, uns mit wesentlichen Fragen zu befassen. Was wir tun sollten« – er schaut die beiden anderen an –, »ist, die Vorgehensweise zu klären. Ich brauche wohl kaum zu betonen, David, daß die Angelegenheit streng vertraulich behandelt wird, das kann ich dir zusichern. Dein Name wird geschützt, und auch Frau Isaacs Name wird geschützt. Es wird ein Komitee eingesetzt. Seine Aufgabe wird sein zu entscheiden, ob es Gründe für disziplinarische Maßnahmen gibt. Du oder dein Rechtsbeistand werden die Möglichkeit haben, seine Zusammensetzung zu prüfen. Die Anhörungen werden unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfinden. Bis das Komitee seine Empfehlung an
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