Schande
weiß, es gibt Menschen, die sich schwertun, Freundschaften zu schließen, deren Haltung Männerfreundschaften gegenüber von Skepsis zerfressen ist?
Freund, von gotisch frijon , lieben. Besiegelt das Teetrinken in den Augen von Bill Shaw einen Liebesbund? Doch wenn Bill und Bev Shaw nicht wären, und der alte Ettinger, wenn es nicht irgendwelche Bindungen gäbe, wo wäre er dann jetzt? Auf der geplünderten Farm mit dem kaputten Telefon, umgeben von den toten Hunden.
»Eine schreckliche Sache«, sagt Bill Shaw im Auto wieder. »Scheußlich. Schlimm genug, wenn man es in der Zeitung liest, aber wenn es einem Bekannten zustößt« – er schüttelt den Kopf –, »dann wird es einem erst so richtig klar. Es ist, als sei man wieder im Krieg.«
Er gibt sich nicht die Mühe, etwas zu erwidern. Der Tag ist noch nicht gestorben, sondern lebt noch. Krieg, Scheußlichkeit: jedes Wort, mit dem man diesen Tag zu fassen versucht, schlingt der Tag in seinen schwarzen Schlund hinunter.
Bev Shaw empfängt sie an der Tür. Lucy hat ein Beruhigungsmittel genommen, verkündet sie, und hat sich hingelegt; man sollte sie am besten in Ruhe lassen.
»Ist sie bei der Polizei gewesen?«
»Ja, Ihr Auto ist zur Fahndung ausgeschrieben.«
»Und sie ist beim Arzt gewesen?«
»Alles erledigt. Wie steht’s mit Ihnen? Lucy sagt, Sie haben schwere Verbrennungen.«
»Ich habe Verbrennungen, aber sie sind nicht so schlimm, wie sie aussehen.«
»Dann sollten Sie etwas essen und sich ausruhen.«
»Ich habe keinen Hunger.«
Sie läßt ihm ein Bad in ihre große, altmodische, gußeiserne Wanne ein. Er streckt seinen blassen Körper der Länge nach im dampfenden Wasser aus und versucht, sich zu entspannen. Aber als es Zeit ist, hinauszusteigen, rutscht er aus und fällt beinahe; er ist schwach wie ein Baby, und ihm ist auch schwindlig. Er muß Bill Shaw rufen und die Schmach erdulden, sich aus der Wanne helfen zu lassen, sich beim Abtrocknen und Anziehen eines geborgten Schlafanzugs helfen zu lassen. Später hört er Bill und Bev gedämpft sprechen und weiß, daß sie über ihn reden.
Im Krankenhaus hat man ihm ein Röhrchen Schmerztabletten mitgegeben, ein Päckchen Brandbinden und ein kleines Aluminium-Gestell, um seinen Kopf darauf zu legen. Bev Shaw macht ihm ein Sofa zurecht, das nach Katzen riecht; mit erstaunlicher Leichtigkeit schläft er ein.
Mitten in der Nacht wacht er in einem Zustand äußerster Klarheit auf. Er hat eine Vision gehabt: Lucy hat zu ihm gesprochen; ihre Worte – »Komm zu mir, rette mich!« – klingen ihm noch in den Ohren. In der Vision steht sie, die Hände ausgestreckt, das nasse Haar zurückgekämmt, in einem weißen Lichtkreis da.
Er steht auf, stolpert gegen einen Stuhl, wirft ihn um.
Das Licht geht an, und Bev Shaw steht im Nachthemd vor ihm. »Ich muß mit Lucy sprechen«, murmelt er – sein Mund ist trocken, die Zunge dick.
Die Tür zu Lucys Zimmer öffnet sich. Lucy ist ganz und gar nicht wie in seiner Vision. Ihr Gesicht ist verschwollen vom Schlaf, sie bindet sich den Gürtel eines Morgenmantels zu, der deutlich nicht der ihre ist.
»Entschuldige, ich hatte einen Traum«, sagt er. Das Wort Vision ist plötzlich zu altmodisch, zu seltsam. »Ich dachte, du hättest mich gerufen.«
Lucy schüttelt den Kopf. »Nein. Geh wieder schlafen.«
Sie hat natürlich recht. Es ist drei Uhr früh. Aber es ist ihm nicht entgangen, daß sie zum zweiten Mal an einem Tag mit ihm wie mit einem Kind gesprochen hat – mit einem Kind oder einem alten Mann.
Er versucht, wieder einzuschlafen, kann es aber nicht.
Es muß eine Nebenwirkung der Tabletten sein, sagt er sich: keine Vision, nicht mal ein Traum, nur eine durch Chemikalien ausgelöste Halluzination. Trotzdem bleibt ihm die Gestalt der Frau im Lichtkreis vor Augen. »Rette mich!« ruft seine Tochter, ihre Worte sind klar, eindringlich, direkt. Ist es möglich, daß Lucys Seele wirklich ihren Körper verlassen hat und zu ihm gekommen ist? Können Menschen, die nicht an Seelen glauben, trotzdem welche besitzen, und können ihre Seelen ein unabhängiges Leben fuhren?
Es sind noch Stunden bis zum Sonnenaufgang. Sein Handgelenk tut weh, die Augen brennen ihm, seine Kopfhaut ist wund und juckt. Vorsichtig schaltet er die Lampe an und steht auf. Eingewickelt in eine Decke stößt er Lucys Tür auf und tritt ein. Ein Stuhl steht am Bett; er setzt sich darauf. Seine Sinne sagen ihm, daß sie
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