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Schande

Schande

Titel: Schande Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J. M. Coetzee
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schreit er, immer wieder, bis er einen Anflug von Wahnsinn in seiner Stimme hört.
      Endlich dreht sich Gott sei Dank der Schlüssel im Schloß. Als er die Tür geöffnet hat, hat ihm Lucy den Rücken zugekehrt. Sie hat einen Bademantel an, sie ist barfuß, ihre Haare sind naß.
      Er geht hinter ihr her durch die Küche, wo der Kühlschrank offensteht und Nahrungsmittel über den ganzen Fußboden verstreut sind. Sie steht an der Hintertür und betrachtet das Blutbad im Hundezwinger. »Meine Lieblinge, meine Lieblinge!« hört er sie murmeln.
      Sie öffnet den ersten Käfig und geht hinein. Der Hund mit der Halswunde atmet irgendwie noch immer. Sie beugt sich über ihn, spricht mit ihm. Schwach wedelt er mit dem Schwanz.
      »Lucy!« ruft er wieder, und nun erst sieht sie ihn an.
      Ein Stirnrunzeln erscheint auf ihrem Gesicht. »Was haben die denn bloß mit dir gemacht?« sagt sie.
      »Mein liebes, liebes Kind!« sagt er. Er folgt ihr in den Käfig und versucht, sie in die Arme zu nehmen. Sanft, aber bestimmt entwindet sie sich ihm.
      Im Wohnzimmer herrscht heilloses Durcheinander, in seinem Zimmer ebenfalls. Sachen sind verschwunden: sein Jackett, seine guten Schuhe, und damit fängt es erst an.
      Er betrachtet sich im Spiegel. Braune Asche, mehr ist nicht von seinem Haar geblieben, bedeckt seine Kopfhaut und seine Stirn. Darunter ist die Kopfhaut hochrot. Er berührt die Haut – sie tut weh und sondert Feuchtigkeit ab. Ein Augenlid schwillt allmählich zu; seine Brauen sind fort, auch die Wimpern.
      Er geht zum Bad, aber die Tür ist verschlossen.
      »Komm nicht rein«, sagt Lucys Stimme.
      »Ist dir was passiert? Bist du verletzt?«
      Dumme Fragen; sie antwortet nicht.
      Er versucht, die Asche unter dem Wasserhahn in der Küche abzuwaschen, indem er sich ein Glas Wasser nach dem anderen über den Kopf gießt. Wasser rinnt ihm den Rücken hinunter; er beginnt, vor Kälte zu zittern.
      Es passiert jeden Tag, jede Stunde, jede Minute, sagt er sich, in jedem Winkel des Landes. Schätze dich glücklich, daß du mit dem Leben davongekommen bist. Schätze dich glücklich, daß du in diesem Moment nicht Gefangener im davonrasenden Auto bist oder mit einer Kugel im Kopf unten in einer Schlucht liegst. Schätze auch Lucy glücklich. Vor allem Lucy.
      Es ist gefährlich, etwas zu besitzen: ein Auto, Schuhe, eine Schachtel Zigaretten. Es reicht nicht für alle, es gibt nicht genug Autos, Schuhe, Zigaretten. Zu viele Menschen, zuwenig Sachen. Was es gibt, muß in Umlauf gebracht werden, damit jeder die Chance hat, einen Tag lang glücklich zu sein. Das ist die Theorie; halte dich an die Theorie und an das Tröstliche der Theorie. Nicht menschliche Bosheit, nur ein gewaltiges Umverteilungssystem, für dessen Funktionieren Mitleid und Schrecken keine Rolle spielen. So muß man das Leben in diesem Land sehen – von der schematischen Seite. Autos, Schuhe; auch Frauen. Es muß eine Nische im System geben für Frauen und was mit ihnen geschieht.
      Lucy ist hinter ihn getreten. Sie hat jetzt Hosen an und einen Regenmantel; ihr Haar ist zurückgekämmt, das Gesicht sauber und völlig ausdruckslos. Er schaut ihr in die Augen. »Mein liebes, liebes ...«, sagt er, und plötzlich aufsteigende Tränen ersticken seine Stimme.
      Sie rührt keinen Finger, um ihn zu trösten. »Dein Kopf sieht furchtbar aus«, bemerkt sie. »Im Badezimmerschränkchen ist Babyöl. Tu was drauf. Ist dein Auto fort?«
      »Ja. Ich glaube, sie sind in Richtung Port Elizabeth gefahren. Ich muß die Polizei anrufen.«
      »Geht nicht. Das Telefon ist kaputt.«
      Sie läßt ihn allein. Er sitzt auf dem Bett und wartet. Obwohl er eine Decke um sich gewickelt hat, fröstelt ihn immer noch. Eins seiner Handgelenke ist geschwollen, und er spürt darin einen pochenden Schmerz. Er kann sich nicht erinnern, wie er es verletzt hat. Es wird schon dunkel. Der ganze Nachmittag scheint blitzschnell vergangen.
       
     
      Lucy kommt zurück. »Sie haben beim Kombi die Luft abgelassen«, sagt sie. »Ich gehe zu Ettinger rüber. Es dauert nicht lange.« Sie macht eine Pause. »David, wenn die Leute fragen, würdest du dich bitte an deine Geschichte halten, an das, was dir zugestoßen ist?«
      Er versteht nicht.
      »Du erzählst, was dir zugestoßen ist, ich erzähle, was mir zugestoßen ist«, wiederholt sie.
      »Du machst einen Fehler«, sagt er mit einer Stimme, die sich bald auf ein Krächzen reduziert.
      »Nein«, sagt sie.
     

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