Schande
Es ist nach elf, aber von Lucy ist nichts zu sehen. Ziellos irrt er durch den Garten. Eine graue Stimmung kommt über ihn. Es ist nicht nur, daß er nicht weiß, was er mit sich anfangen soll. Die gestrigen Ereignisse haben ihn bis ins Mark erschüttert. Das Zittern, die Schwäche sind nur die ersten und oberflächlichsten Zeichen dieser Erschütterung. Ihm ist zumute, als sei in ihm ein lebenswichtiges Organ beschädigt, mißbraucht worden – vielleicht sogar das Herz. Zu erstenmal hat er einen Vorgeschmack davon, wie es sein wird, wenn er ein alter Mann ist, erschöpft bis in die Knochen, ohne Hoffnungen, ohne Wünsche, gleichgültig der Zukunft gegenüber. Zusammengesunken auf einem Plastikstuhl mitten im Gestank von Hühnerfedern und faulenden Äpfeln, spürt er, wie sein Interesse an der Welt Tropfen für Tropfen aus ihm heraussickert. Es kann Wochen dauern, es kann Monate dauern, ehe er ausgeblutet ist, aber er blutet.
Wenn das vorbei ist, wird er wie die leere Hülle einer Fliege im Spinnennetz sein, sich spröde anfühlend, leichter als Reisspreu, bereit, fortzufliegen.
Von Lucy kann er keine Hilfe erwarten. Geduldig, stillschweigend, muß sich Lucy selbst den Weg von der Dunkelheit zurück zum Licht bahnen. Bis sie wieder die alte ist, fällt ihm die Aufgabe zu, ihren Alltag zu bewältigen. Aber es ist zu plötzlich gekommen. Es ist eine Last, auf die er nicht vorbereitet ist: die Farm, der Garten, die Hundepension. Lucys Zukunft, seine Zukunft, die Zukunft des Landes insgesamt – es ist alles gleichgültig, will er sagen; soll doch alles vor die Hunde gehen, es kümmert mich nicht. Und den Männern, die sie heimgesucht haben, wünscht er Böses, wo sie auch sind, will aber sonst nicht weiter an sie denken.
Nur eine Nachwirkung, sagt er sich, eine Nachwirkung des Überfalls. Bald schon wird sich der Organismus erholen, und ich, der Geist darin, werde wieder der alte sein.
Aber die Wahrheit sieht anders aus, weiß er. Seine Lebensfreude ist erstickt worden. Wie ein Blatt im Fluß, wie eine Pusteblume im Wind hat er angefangen, seinem Ende entgegenzutreiben. Er sieht es ganz klar, und es erfüllt ihn mit (das Wort will nicht weichen) Verzweiflung.
Das Lebensblut verläßt seinen Körper, und an seiner Stelle kommt die Verzweiflung, Verzweiflung, die wie ein Gas ist, geruchlos, geschmacklos, ohne Nährkraft. Man atmet es ein, die Glieder entspannen sich, alles ist gleichgültig, sogar in dem Moment, wenn der Stahl die Kehle berührt.
Es klingelt an der Tür – zwei junge Polizisten in schmucken neuen Uniformen, bereit, mit ihren Untersuchungen zu beginnen. Lucy taucht aus ihrem Zimmer auf, sieht verhärmt aus, hat noch dieselben Sachen an wie gestern. Sie will kein Frühstück. Bev fährt sie hinaus auf die Farm, und die Polizisten folgen in ihrem Fahrzeug.
Die Kadaver der Hunde liegen im Käfig, wo sie erschossen wurden. Die Bulldogge Katy ist noch da – sie bekommen sie kurz zu Gesicht, wie sie beim Stall herumschleicht und sich abseits hält. Petrus ist nirgends zu sehen.
Im Haus nehmen die beiden Polizisten ihre Mützen ab und klemmen sie unter den Arm. Er hält sich zurück und überläßt es Lucy, ihnen die Sache so zu erzählen, wie sie will. Sie hören respektvoll zu, schreiben jedes Wort mit, der Stift jagt nervös über die Seiten des Notizblocks. Sie gehören zu ihrer Generation, sind in ihrer Gegenwart aber trotzdem verlegen, als wäre sie ein verseuchtes Wesen und als könnte ihre Verseuchung auf sie übergehen, sie beflecken.
Es waren drei Männer, berichtet sie, oder zwei Männer und ein Junge. Sie verschafften sich mit einem Trick Zugang zum Haus, sie stahlen (sie zählt die Gegenstände auf) Geld, Kleidung, einen Fernseher, einen CD-Player, ein Gewehr mit Munition. Als ihr Vater Widerstand leistete, griffen sie ihn an, Übergossen ihn mit Spiritus, versuchten, ihn anzuzünden. Dann erschossen sie die Hunde und fuhren in seinem Auto fort. Sie beschreibt die Männer und wie sie bekleidet waren; sie beschreibt das Auto.
Während Lucy spricht, blickt sie ihn die ganze Zeit unverwandt an, als schöpfe sie Kraft bei ihm oder als fordere sie ihn heraus, ihr zu widersprechen. Als einer der Polizisten fragt: »Wie lang hat der ganze Vorfall gedauert?«, sagt sie: »Zwanzig Minuten, dreißig Minuten.« Das stimmt nicht, wie er weiß, wie sie weiß. Es hat viel länger gedauert. Wieviel länger? Soviel länger, wie die Männer brauchten, um ihre Sache mit der
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