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Schande

Schande

Titel: Schande Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J. M. Coetzee
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Freunde meiden dich, du versteckst dich in der Torrance Road wie eine Schildkröte, die Angst hat, den Kopf aus dem Panzer zu recken. Leute, die dir nicht das Wasser reichen können, machen Witze über dich. Dein Hemd ist nicht gebügelt, Gott weiß, wer dir diesen Haarschnitt verpaßt hat, du hast –« Sie hält in ihrer Tirade inne. »Du wirst als einer dieser traurigen alten Männer enden, die in den Mülltonnen herumstochern.«
      »Ich werde in einem Loch in der Erde enden«, sagt er.
      »Und du auch. Wie wir alle.«
      »Das reicht, David, ich habe mich so schon ziemlich aufgeregt, ich möchte mich nicht noch streiten.« Sie sammelt ihre Siebensachen auf. »Wenn du Brot und Marmelade satt hast, ruf mich an, und ich koche dir was Richtiges.«
       
     
      Die Erwähnung von Melanie Isaacs bringt ihn aus dem Gleichgewicht. Er hat sich nie mit langwierigen Affären abgegeben. Wenn eine Affäre vorbei ist, läßt er sie hinter sich. Aber die Sache mit Melanie hat etwas Unvollendetes.
      Tief in ihm ist ihr Geruch aufbewahrt, der Geruch einer Gefährtin. Ob auch sie sich an seinen Geruch erinnert?
      Genau dein Typ, hat Rosalind gesagt, die es wissen müßte.
      Was ist, wenn sie sich wieder über den Weg laufen, er und Melanie? Wird dann ein Gefühl aufflammen, ein Zeichen, daß die Affäre nicht zu Ende gebracht wurde?
      Allein schon die Idee, sich erneut um Melanie zu bewerben, ist verrückt. Warum sollte sie mit dem Mann reden, der als ihr Verfolger verurteilt wurde? Und was würde sie überhaupt von ihm halten – dem Narren mit dem komischen Ohr, dem ungepflegten Haar, dem zerknautschten Kragen?
      Die Heirat von Kronus und Harmonie – widernatürlich. Das sollte der Prozeß eigentlich bestrafen, alle hochtrabenden Worte einmal beiseite gelassen. Seiner Lebensweise wurde der Prozeß gemacht. Verurteilt wegen widernatürlicher Handlungen: weil er alten Samen, müden Samen verbreitet hat, Samen, der kein Leben weckt, contra naturam. Wenn die alten Männer die jungen Frauen beanspruchen, wie soll die Zukunft der Gattung aussehen? Das war im Grunde der Fall, der strafrechtlich verfolgt wurde.
      Die halbe Literatur handelt davon: junge Frauen, die dem erdrückenden Gewicht alter Männer zu entkommen suchen, um der Gattung willen.
      Er seufzt. Die Jungen umarmen sich, leichtfertig, in die Musik der Sinne versunken. Er scheint viel Zeit mit Seufzen zu verbringen. Bedauern: ein bedauernder Ton, mit dem alles enden soll.
       
     
      Bis vor zwei Jahren war das Dock Theatre noch ein Tiefkühlhaus, wo die Rümpfe von Schweinen und Ochsen hingen und darauf warteten, verschifft zu werden. Jetzt ist es ein beliebter Vergnügungsort. Er kommt spät an und nimmt seinen Platz ein, als die Lichter langsam verlöschen. »Ein überwältigender Erfolg, der auf allgemeinen Wunsch wieder ins Repertoire aufgenommen wurde« – so wird Sunset at the Globe Salon in der neuen Inszenierung angekündigt. Das Bühnenbild ist stilvoller, die Regie professioneller, die Hauptrolle ist neu besetzt. Trotzdem findet er das Stück mit seiner derben Komik und seinem nackten politischen Anliegen nach wie vor schwer erträglich.
      Melanie hat ihre Partie als Friseurlehrling Gloria behalten. In einem pinkfarbenen Kaftan über Goldlamé-Trikothosen, mit grell geschminktem Gesicht, das Haar hochfrisiert, so kommt sie in Stöckelschuhen auf die Bühne geschwankt. Ihr Text ist voraussehbar, aber sie liefert ihn mit Gefühl fürs Timing in einem jammernden Kaaps-Dialekt ab. Sie ist insgesamt viel selbstsicherer als früher – sie ist tatsächlich gut in der Rolle, richtig begabt. Ist es möglich, daß sie in den Monaten seiner Abwesenheit erwachsen geworden ist, sich gefunden hat? Was uns nicht umbringt, macht uns stärker. Vielleicht war die Prüfung auch für sie eine Prüfung; vielleicht hat auch sie gelitten und hat es durchgestanden.
      Er wünschte, er könnte ein Zeichen erhalten. Wenn er ein Zeichen erhielte, wüßte er, was er tun sollte. Wenn zum Beispiel diese lächerlichen Kleider von ihrem Körper in einer kalten, heimlichen Flamme wegbrennen würden und sie vor ihm stehen würde, in einer nur ihm zuteil werdenden Offenbarung, so nackt und vollkommen wie in der letzten Nacht in Lucys altem Zimmer.
      Den Urlaubern, zwischen denen er sitzt, mit ihren geröteten Gesichtern, zufrieden mit ihren korpulenten Körpern, gefällt das Stück. Sie haben Melanie-Gloria ins Herz geschlossen; sie kichern bei den zweideutigen

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