Schande
Scherzen, lachen brüllend, wenn die Figuren einander beleidigen und beschimpfen.
Obwohl das seine Landsleute sind, könnte er sich unter ihnen nicht fremder fühlen, fast kommt er sich wie ein Hochstapler vor. Aber wenn sie über Melanies Text lachen, kann er aufkeimenden Stolz nicht unterdrücken.
Sie gehört mir! würde er gern zu ihnen sagen, als wenn sie seine Tochter wäre.
Unvermittelt steigt in ihm eine Erinnerung auf an eine Frau, die er auf der N l hinter Trompsburg aufgelesen und im Auto mitgenommen hat, eine Zwanzigjährige, allein unterwegs, eine Touristin aus Deutschland, sonnenverbrannt und staubig. Sie fuhren zusammen bis Touws River, nahmen ein Hotelzimmer; er lud sie zum Essen ein und schlief mit ihr. Er erinnert sich an ihre langen, durchtrainierten Beine; er erinnert sich an die Weichheit ihrer Haare, das federleichte Gefühl, wenn er sie in den Fingern hielt.
Als wäre er in einen Wachtraum verfallen, stürzt plötzlich wie in einer lautlosen Eruption eine Bilderflut über ihn herein, Bilder von Frauen, die er auf zwei Kontinenten gekannt hat, einige aus so ferner Zeit, daß er sie kaum erkennt. Wie Blätter, die der Wind vor sich hertreibt, fliegen sie kunterbunt an ihm vorbei. Ein weites Feld voll von Volk [17] – Hunderte von Leben sind mit seinem verstrickt. Er hält den Atem an, will, daß die Vision anhält.
Was ist mit ihnen geschehen, mit diesen Frauen, mit all diesen Leben? Gibt es Momente, wenn auch sie, oder einige von ihnen, ohne Vorwarnung in den Ozean der Erinnerung gestürzt werden? Das deutsche Mädchen: ist es möglich, daß sie sich eben jetzt an den Mann erinnert, der sie in Afrika auf der Straße aufgelesen und die Nacht mit ihr verbracht hat?
Bereichert: das war das Wort, das die Zeitungen herauspickten, um sich darüber lustig zu machen. Unter den damaligen Umständen war es töricht, ein solches Wort zu äußern, aber nun, in diesem Moment, würde er dazu stehen. Melanie, das Mädchen in Touws River; Rosalind, Bev Shaw, Soraya – jede hatte ihn bereichert, auch die anderen, sogar die letzten unter ihnen, sogar die Mißerfolge hatten ihn bereichert. Wie eine Blume, die in seiner Brust erblüht, quillt sein Herz vor Dankbarkeit über.
Woher kommen solche Momente? Sicher hypnagogisch; aber was erklärt das? Wenn er geführt wird, welcher Gott fuhrt ihn dann?
Das Stück geht mühsam seinen Gang. Sie sind an der Stelle angelangt, wo Melanie sich mit dem Besen in der Verlängerungsschnur verheddert. Ein Magnesiumblitz, und die Bühne versinkt plötzlich im Dunkeln. »Jesus Christ, jou dom meid!« kreischt der Friseur.
Zwischen ihm und Melanie sind zwanzig Sitzreihen, doch er hofft, daß sie ihn in diesem Moment über den trennenden Raum hinweg riechen kann, seine Gedanken riechen kann.
Irgend etwas trifft ihn leicht am Kopf und holt ihn in die Wirklichkeit zurück. Kurz darauf zischt ein weiterer Gegenstand an ihm vorbei und prallt auf die Lehne des Vordersitzes – eine murmelgroße Papierkugel. Eine dritte trifft ihn im Nacken. Er ist die Zielscheibe, daran gibt es keinen Zweifel.
Man erwartet von ihm, daß er sich umdreht und empört blickt. Wer war das? soll er bellen. Oder stur vor sich hinblicken und so tun, als merke er nichts.
Ein viertes Geschoß trifft ihn an der Schulter und prallt ab. Der Mann auf dem Nachbarsitz schaut verstohlen und verwundert her.
Auf der Bühne ist die Handlung weitergegangen. Der Friseur Sidney öffnet den fatalen Brief und liest das Ultimatum des Vermieters vor. Sie müssen bis Monatsende die Mietrückstände begleichen, andernfalls muß der Globe Salon schließen. »Was sollen wir nur machen?« jammert Miriam, die Frau, die den Leuten die Haare wäscht.
»Sss«, zischt es hinter ihm, so leise, daß man es vorn im Zuschauerraum nicht hören kann. »Sss.«
Er dreht sich um, und ein Geschoß trifft ihn an der Schläfe. An die hintere Wand gelehnt steht dort Ryan, der Freund mit dem Ohrring und dem Spitzbärtchen. Sie sehen sich an. »Professor Lurie!« flüstert Ryan heiser.
Obwohl sein Benehmen unverschämt ist, wirkt er ganz entspannt. Auf seinen Lippen ist ein kleines Lächeln.
Das Stück geht weiter, aber um ihn herum macht sich jetzt spürbar Unruhe breit. »Sss« zischt Ryan wieder.
»Ruhe!« ruft die Frau zwei Plätze weiter ihm zu, obwohl er keinen Laut von sich gegeben hat.
Er muß sich an fünf Paar Knien vorbeidrängen (»Entschuldigung ...
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