Schandweib
Dächern der Stadt stiegen erste feine schwarzgraue Schwaden wie Säulen in den blauen Mittagshimmel. Wilken blickte konzentriert um sich, ganz Herr der Lage in dem zunehmenden Gewühl der Menschen, die nun in Richtung Vincent-Bastion strömten, aus Schaulust oder um bei den Löscharbeiten zu helfen. Dann bellte er den Brookvogt an, zur Bastion zu eilen und ihm umgehend Bericht zu erstatten. Der Brookvogt gab denBefehl sofort an zwei Röper weiter, die vor der Frohnerei auf ihn gewartet hatten.
»Ein Feuer auf den Wällen ist immer gefährlich. Aber wenn eine ganze Bastion brennt, kann es schnell brenzlig für die Sicherheit der Stadt werden«, ließ sich Dr. Meyer vernehmen.
Wilken warf ihm einen wütenden Blick zu, sagte aber nichts. Schon stiegen immer dickere schwarze Rauschschwaden von den Wallanlagen her auf, und mehr und mehr Menschen strömten in Richtung Alster.
Wrangel war unschlüssig, was er tun sollte. Zum einen musste er nach ihrer selbstmörderischen Aussage noch auf jeden Fall mit Bunk reden, zum anderen zog der Brand die ganze Aufmerksamkeit auf sich, denn er gefährdete den Schutz der Stadt. Die Vincent-Bastion, ein gewaltiges steinernes Bollwerk, allerdings mit zahlreichen hölzernen Aufbauten, reichte zur Hälfte in die Alster und sperrte mit ihren drei Kanonen den Zugang nach Hamburg über den Fluss.
Da kehrte einer der Röper des Brookvogtes außer Atem zurück. »Es sieht sehr gefährlich aus«, stieß er hervor. »Das Feuer auf der Bastion hält sich zwar in Grenzen, aber die Leute munkeln, dass in ihrer unmittelbaren Nähe ein großes Schwarzpulverlager sein soll. Wenn das Feuer dorthin überspringt, dann gibt es eine gewaltige Explosion, die den Wall zerreißen kann.«
»Schwarzpulverlager? Wer ist so wahnsinnig und lagert so etwas mitten in der Stadt?«, schrie Wilken aufgebracht. »Los, Brookvogt, alarmiert alle Eure Gehilfen und sorgt für Ordnung und schnelles Handeln bei den Löscharbeiten! Das Feuer darf sich auf keinen Fall ausbreiten. Ich werde mich sofort zum Rat begeben. Denn wenn es zu einer großen Explosion kommen sollte, ist die Stadt in höchster Gefahr.«
Wrangel zögerte nicht länger. Bunk konnte warten. Er rannte die Steinstraße hinunter, aus deren großen Kontorhäusern die Mägde und Knechte mit Eimern und Decken in den Händen herausliefen und sich in den aufgeregten Strom der Menschen einreihten. Vor St. Petri, deren gewaltige Glocken mit ihren heftigen Klöppelschlägen die Luft erzittern ließen, drängten sich mehrere wohlgekleidete Damen aneinander, als hätten sie Angst, von der Flut vorbeilaufender Menschen mitgerissen zu werden. Für einen kurzen Augenblick meinte Wrangel in einer zierlichen jungen Frau Ruth Abelson zu erkennen. Aber als er sich noch einmal nach ihr umwandte, hatten sich bereits mehrere große Männer zwischen ihn und die Damen geschoben, sodass er niemanden mehr erkennen konnte. So rannte er weiter, hinüber zum Speersort und über den Pferdemarkt , auf dem einige Bauern verzweifelt versuchten, ihre scheuen Tiere zu beruhigen, hinein in die Rosenstraße. Die Menschenmenge wurde immer dichter. Jetzt sah man schon deutlich schwarze Rauchwolken aufsteigen. Er mied die enge und schlecht gepflasterte Watertwiete , die direkt auf das Drillhaus zuführte, wo den Anwärtern auf die Hamburger Bürgerschaft das Exerzieren beigebracht wurde. Stattdessen lief er weiter die Rosenstraße hinunter, vorbei am Haus seiner Wirtin, direkt auf die Wallanlage zwischen der Vincent- und der Hieronymus-Bastion zu, gleich neben dem Steintor.
Mächtig türmte sich der Wall vor ihm auf. Die Menschen drängten sich bis an die hohen Stadtmauern, hinter denen sich der Himmel bereits schwarz gefärbt hatte. Viele taten, was sie konnten, um beim Löschen zu helfen, andere folgten einfach nur dem grausigen Schauspiel des Feuers, das mit großen Flammen die Bastion im Griff hielt und sich von den Eimern voller Wasser, das die Leute von allen Seiten auf die lodernden Zungenkippten, nicht bändigen ließ. Mit jedem Atemzug biss einen der Rauch in den Lungen. Wrangel band sich ein Tuch vor den Mund und suchte sich eine unauffällige Ecke, aus der er das Treiben, ohne zu stören, beobachten konnte.
Direkt hinter der Rosenstraße lag eine Reihe kleinerer Stadtgärten mit vielen Holzverschlägen, in denen die Leute ihr Werkzeug, manchmal sogar kleine Tiere hielten. Auch jetzt rannten quiekende Schweine den Helfern zwischen den Beinen herum und sorgten für weiteren Tumult.
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