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Schandweib

Schandweib

Titel: Schandweib Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Weiss
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schmutziger Schürze beiseite, ergriff die Kleine mit beiden Armen und hob sie hoch auf ihre Hüfte. Sie mochte vielleicht vier Jahre alt sein. Große braune Augen starrten sie erschrocken an, dann fasste das Mädchen Vertrauen und hielt sich mit ihren Händchen an Ruths Schulter fest.
    »Wo hast du denn deine Mutter verloren?«
    »Weiß nicht …«
    Ruth schob sich mit dem Kind im Arm gegen den Menschenstrom in Richtung Rosenstraße, um dem ärgsten Gedränge zu entkommen, als mit einem Mal ein gewaltiger Donner die Luft erzittern ließ. Die Leute schrien auf, die Kleine kreischte schrill in Ruths Ohr. Plötzlich bekam sie einen schmerzhaften Schlag gegen die linke Schulter, der sie ins Wanken brachte. Ruth taumelte und drehte sich um, um zu sehen, was sie getroffen hatte. Neben ihr lag ein brennender Balken auf dem Boden, unter ihm eine zusammengekrümmte alte Frau. Entsetzt sprang Ruth einen Schritt zurück, prallte gegen einen schweren Mann hinter ihr und wäre vornüber auf den brennenden Balken gestürzt, hätte der Mann sie nicht mit schnellem Griff am Arm gepackt. Vor Schreck hatte das Kind auf ihrem Arm aufgehört zu schreien, dafür krallten sich die kleinen Finger tief in ihre Schulter. Unter dem Kopf der am Boden liegenden Alten floss ein Rinnsal Blut hervor.
    »Man muss den Balken zur Seite ziehen!«
    »Wasser, wir brauchen Wasser! Der Balken brennt doch!«
    Plötzlich schlug jemand ein Tuch gegen Ruths Beine. Zum Glück hielt der kräftige Mann immer noch ihren Arm, sonst wäre sie endgültig gestürzt.
    »Euer Kleid, Frau, es brennt!«
    Erneut schlug das Tuch gegen Ruths Beine, und das Kind kreischte auf. Entsetzt starrte Ruth an sich herab. Der Saum ihres Kleides hatte Feuer gefangen, das sich in kräuselnden Schlangenlinien emporfraß. Bevor sie schreien konnte, erfolgte der nächste Schlag. Doch diesmal war es nicht das Tuch. Jemand hatte einen Kübel Wasser gegen ihre Beine geschüttet. Eiskalt legte sich der nasse Stoff um ihre Glieder.
    »Ihr müsst hier fort, Frau!« Der kräftige Mann hinter ihr zog sie weg von dem Balken, der blutenden Alten und den eilig Wasser weiterreichenden Menschen. »Ihr müsst Euer Kind in Sicherheit bringen! Dies ist kein Ort für eine junge Mutter. Überlasst diese Arbeit anderen!«
    Ruth fasste die Kleine fester und schob sich an den Fassaden der Häuser entlang bis zur nächsten Straßenecke. Dort war es etwas ruhiger. Sie musste das Kind in Sicherheit, am besten nach Hause bringen. Mit einer Hand strich sie sich die Haare aus dem Gesicht und sprach die Kleine so ruhig und freundlich an, wie sie konnte.
    »Wie heißt du, Kleines?«
    »Marie«, flüsterte sie.
    »Das ist ein sehr schöner Name, Marie. Und ich heiße Ruth.«
    Die Kleine nickte und wischte sich den Rotz von der Nase.
    »Weißt du denn, wo du wohnst, Marie? Dann bringe ich dich zu deiner Mutter.«
    Das Mädchen schüttelte nur den Kopf und fing erneut an zu weinen.
    »Schschsch, Marie, nicht weinen. Es ist ja alles gut.« Ruth wischte der Kleinen tröstend die Tränen von der Wange und überlegte, was sie tun könnte. »Sag, Marie, weißt du, welchem Tagewerk dein Vater nachgeht?«
    Das Kind weinte immer noch und schaute Ruth nur verständnislos an.
    »Womit verdient dein Vater sein Brot, Marie?«
    »Er sägt Holz.«
    »Das ist aber schön. Weißt du auch, wo er das tut? Macht er das hier in der Stadt?«
    »Ja, am Wasser bei der Mühle arbeitet er. Meine Mama und ich bringen ihm immer das Essen.«
    »Du bist ein braves Mädchen, Marie.« Ruth dachte fieberhaft nach. Die einzige Sägemühle, die sie kannte, lag am Jungfernstieg. Hoffentlich fand sie dort den Vater.
    Entschlossen schob sie Marie fester auf ihre Hüfte und machte sich auf den Weg. Je weiter sie sich von der brennenden Bastion entfernte, desto ruhiger wurden die Straßen und Gassen. Sie durchquerte die Rosenstraße und sah vor sich die Petrikirche. Unweit dahinter lag die Sägemühle. Ihr Rücken schmerzte, das nasse Kleid schlug gegen die Beine und erschwerte jeden Schritt. Endlich tauchte das Mühlrad vor ihr auf.
    »Ist es hier, Marie, arbeitet hier dein Vater?«
    Die Kleine wischte sich die Tränen aus den Augen und spähte um sich. Mit einem Mal schrie sie erregt auf: »Da, da, mein Vater!«, und wedelte mit den kleinen Händen wild um sich.
    Ruth folgte mit ihren Augen den Händen und erblickte einen jungen Zimmermann, der gerade seinen großen Hut abgenommen hatte und sich den Schweiß von der Stirn wischte. Mit eiligen Schritten

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