Scharfe Pranken
hielt ihren Blick gesenkt und sah überhaupt nicht so aus wie die Blayne, die er Ende Oktober des vergangenen Jahres kennengelernt hatte. Jene Wolfshündin hatte voller Leben und Lachen gesteckt, diese Blayne hier hingegen wirkte hinter all den blauen Flecken und verheilenden Wunden, die ihr Gesicht und ihren Hals bedeckten, als fühle sie sich elend. Am Boden zerstört. Gott, was hatten diese Vollmenschen ihr nur angetan? Oder hatten die Bären sie so zugerichtet?
Van wusste, dass sein Cousin genau dasselbe dachte. Er sah, wie Ric sich aufrichtete, sein Rücken so steif wurde, als habe er einen Stock verschluckt, er den Blick senkte und ihm ein tiefes Knurren entwich. Lock stellte sich neben ihn, um zu zeigen, auf wessen Seite er stand – nur für den Fall, dass es zu unschönen Szenen kommen sollte, aber auch, um seinen Freund zu beschützen.
Die kleine Gruppe kam auf sie zu, und nachdem er einmal tief Luft geholt hatte, um sich zu beruhigen, fragte Ric: »Blayne? Geht es dir gut?«
»Ja«, antwortete sie leise. »Ja. Mir geht’s gut.«
Lock ließ seinen Blick über die Gruppe von Bären wandern, deren Anzahl sich inzwischen vergrößert hatte, wie Van plötzlich feststellte.
»Wir bringen dich wieder nach Hause«, sagte Lock.
»Ja«, stimmte Ric ihm zu, den Blick weiter auf Blayne gerichtet, die jedoch noch immer auf den Boden starrte. »Wir bringen dich wieder nach Hause, Blayne. Nach Hause und in Sicherheit.«
Bei diesen Worten richteten sich Miss Thorpes dunkelbraune Augen urplötzlich auf Ric, und aus ihrem Blick sprach eine Wut, die Van beinahe den Atem raubte.
»Blayne?«, fragte Ric leise und ging vorsichtig einen Schritt auf sie zu.
Knurrend entfernte sich Blayne von ihnen. Ric wollte ihr nachgehen, aber Grigori Novikov stellte sich vor ihn und schnitt ihm den Weg ab.
Der Marodeur folgte ihr, und die beiden blieben erst stehen, als sie die Hausecke erreicht hatten.
Van hatte keine Ahnung, was zur Hölle hier vor sich ging, aber er wusste, dass es nichts Gutes war. Ganz und gar nichts Gutes.
»Ich will nicht wieder zurück«, sagte sie schlicht.
Bo blinzelte überrascht. So war Blayne also, wenn sie wirklich wütend war. Gut zu wissen. »Okay.« Er würde sie nicht zwingen, zurückzugehen. »Wo willst du dann hin? Ich habe Häuser in Tahiti, Paris, London, Edinburgh …«
Sie sah sich um. »Ich will hierbleiben.«
»Hier … wo?«
»Hier. In Ursus County.« Sie blickte sich erneut um. »Mir gefällt’s hier.«
»Du kannst nicht hierbleiben, Blayne.«
»Warum denn nicht?«
»Du kannst nicht hierbleiben, Blayne«, wiederholte Bo. »Vertrau mir einfach.«
Grigori gesellte sich zu ihnen, während die Wölfe und Mac Ryrie am anderen Ende des Häuserblocks auf sie warteten. »Was ist hier los?«
»Nichts, womit ich nicht fertigwerden würde.«
»Kann ich hierbleiben?«, fragte Blayne, und Grigori sah genauso verblüfft aus, wie Bo sich gefühlt hatte, als sie ihm eben verkündet hatte, sie wolle hierbleiben. Noch nie zuvor in der Geschichte der Stadt – und die Stadt hatte eine sehr lange Geschichte – hatte ein Nicht-Bär oder Nicht-Fuchs, der nicht mit einem Einwohner aus Ursus County liiert war, hierbleiben wollen.
»Hier … bleiben?« Grigoris tiefe Stimme brach kaum merklich, als er ihre Frage wiederholte.
Blayne schniefte einmal, dann ein zweites Mal: »Wollen … wollen Sie nicht, dass ich hierbleibe?«
»Äh …«
»Schon okay. Ich verstehe das.« Eine einsame Träne rann über ihre Wange. »Wenn ich Sie wäre, würde ich mich auch nicht hierhaben wollen.«
»Nein, nein«, erklärte Grigori hastig, bereits in leichter Panik. »Du darfst mich nicht falsch verstehen. Es ist nur …«
»Was ist hier los?«, wollte Dr. Luntz wissen und stapfte zu ihnen herüber. »Diese Wölfe werden allmählich ungemütlich.«
Grigori drehte sich zu ihr um. »Blayne möchte hierbleiben.«
Dr. Luntz betrachtete Grigori einen Augenblick lang, schaute dann zu Bo hinüber und richtete ihren Blick schließlich auf Blayne.
»Du möchtest hierbleiben?«
»Nicht für immer. Es ist nur …«
»Natürlich kannst du hierbleiben, Blayne.«
» Was? «, riefen Bo und Grigori gleichzeitig aus.
»Wir werden dieses arme, liebenswerte Mädchen nicht abweisen. Und davon abgesehen ist es ja nicht für immer. Richtig, Blayne?«
Blayne nickte schnell – sie erkannte eine Verbündete, wenn sie eine fand. »Nein, Ma’am. Nicht für immer.«
»Nur so lange, bis diese unhöflichen
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