Schatten der Gegenwart (Für Immer & Länger)
festhielt und ich wollte nicht, dass er so schnell
endete.
Michael schien es ähnlich zu ergehen.
Im Gegensatz zu sonst fuhr er gesittet, man könnte fast sagen langsam. Ganz so,
als wolle er den Moment des Abschiedes ebenso hinauszögern wie ich.
Wir sagten beide kein Wort. Das war
auch nicht nötig. Aus dem Radio drang diese melancholische Ballade, die bereits
seit mehreren Wochen auf allen Funkstationen übertragen wurde. Ich wusste
nicht, wer die Sängerin war und kannte den Text nicht, aber die Melodie hatte
sich unmittelbar in mein Gehirn gebrannt.
Minutenlang hing ich den Tönen nach,
bis das Lied schließlich endete und von einer rockigen Nummer abgelöst wurde.
»Du hast immer noch eine wundervolle
Stimme«, sagte Michael fast andächtig.
Ich erstarrte. Hatte ich etwa
gesungen? War die Melodie nicht nur in meinem Kopf gewesen? Hatten die Töne
wirklich meine Lippen verlassen? Mir stockte das Blut in den Adern und meine
Gedanken rasten dahin. Seit er gegangen war, seit Robert mich verlassen hatte,
hatte ich keinen einzigen Ton mehr hervorgebracht. Früher verging kaum eine stille
Minute, in der ich keine Melodie auf den Lippen trug. Es war selbstverständlich
und ich hatte es nicht wirklich unter Kontrolle. Dahinter steckte keine
bewusste Entscheidung, es geschah einfach so. Doch dann waren die Töne aus
meinem Leben verschwunden, ganz so, als seien sie nur für die schönen Momente reserviert.
Besorgt blickte Michael mich an und
seine eisblauen Augen suchten nach der Schwachstelle, um meine Starre zu lösen.
»Habe ich etwas Falsches gesagt?«, fragte er zögerlich.
Ich erwiderte seinen Blick und alles
in mir entspannte sich. »Nein im Gegenteil. Es ist perfekt.«
Während er schweigend weiterfuhr,
konnte ich kaum aufhören, jeden Song mitzusingen. Dies hier war ein schöner
Moment. Viel zu schnell waren wir vor meiner Bürotür angelangt.
»Hast du heute Abend schon was vor?«,
fragte Michael unvermittelt. »Ich könnte ja bei dir vorbei kommen.«
Ich erschauderte bei dem Gedanken
daran, dass er in meiner Wohnung sein würde und das Bilderchaos erblickte, das
dort herrschte. Ein eiserner Griff schnürte mir die Brust zu.
»Nein!«, presste ich heraus und sah
augenblicklich die Enttäuschung in seinen Augen. »Nein, nicht bei mir.«
Beruhigend nahm er meine Hand und strich
sanft mit dem Daumen über meinen Handrücken. »Was hältst du dann von meiner
Wohnung?«
Ich nickte hektisch. Um nichts in der
Welt sollte er denken, dass ich keine Zeit mit ihm verbringen wollte, wo doch
genau das Gegenteil der Fall war.
»Gut dann hole ich dich heute Abend
um sechs hier ab und dann fahren wir zu mir.« Behutsam gab er mir einen sanften
Abschiedskuss auf die Wange und ich verließ den Wagen.
Als ich endlich an meinem
Schreibtisch angekommen war, drehte sich immer noch alles. Ich spürte, wie sich
mein Blut aufgeregt einen Weg durch meine Adern suchte.
»Na da scheint aber jemand sehr
glücklich zu sein«, sprach eine mir bekannte Männerstimme hinter mir und ich
drehte mich auf dem Absatz um. »Ich habe Ihr Strahlen wirklich vermisst Emilia.
Willkommen zurück an Bord«, fügte Herr Merckel hinzu und schien sichtlich
zufrieden zu sein.
»Sie haben mich doch schon einmal
zurückbegrüßt.«
»Ja, das stimmt«, lachte er auf. »Aber
diesmal meine ich es wirklich ernst. Willkommen zurück im Leben.«
»Danke.« Irritiert sag ich ihm
hinterher, als er in sein Büro entschwand.
Ich ließ mich auf meinen Bürostuhl
fallen und drehte mich ein paar Mal im Kreis. So hatte ich zumindest das
Gefühl, dass mein Körper und mein Kopf das Gleiche empfanden – kreiselndes,
glückliches Chaos.
Hatte ich es wirklich geschafft?
Hatte ich alle Phasen hinter mir gelassen, wenn es selbst meinem Chef auffiel?
War das hier meine neue Welt? Verleumdung – Emotionen – Suche – eine neue Welt.
Alles hatte ich durchlebt. Ich hatte es nicht wahrhaben wollen, ich hatte mir
nahstehende Menschen angeschrien, ich hatte ihn gefunden, oder er mich, und ich
hatte mit ihm abgeschlossen.
Doch es gab auch eine andere
Vergangenheit und ich hatte mich an sie erinnert. Ich hatte wieder angefangen
zu leben, eine neue Welt betreten und es fühlte sich richtig an.
* * *
Als wir vor dem Haus angekommen
waren, in dem anscheinend Michaels Wohnung beheimatet war, blieb mir erneut die
Luft weg. Eigentlich war ich ja selbst schuld. Hatte ich bei seinem Verdienst
wirklich erwartet, dass er in einer einfachen Zweizimmerwohnung hausen
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