Schatten der Gegenwart (Für Immer & Länger)
über das Gesicht, aber genauso schnell, wie er sie verloren hatte, erlangte
er seine Fassung wieder.
»Ja, aber das ist schon sehr lange
her. Ich glaube ich würde es heute kaum mehr wiedererkennen. Und was ist mit
dir? Warst du schon einmal dort?«
Ich schüttelte den Kopf und sah
wieder diese Enttäuschung in seinen Augen. Warum machte ihn das so traurig?
»Wir könnten es uns ja vielleicht
irgendwann einmal zusammen ansehen«, wand ich ein und versuchte so irgendwie
die Stimmung zu retten.
»Du wirst es lieben. Da bin ich mir
ganz sicher«, entgegnete er und ein wissendes Lächeln flog über seine Lippen.
Er schien sich seiner Sache sehr sicher zu sein, warum auch immer.
»Was machen eigentlich die anderen?
Von damals, aus unserer Band meine ich?«
»Jeder macht was anderes. Rico ist
aufgegangen wie ein Hefekloß. Du würdest ihn nicht wieder erkennen.« Augenblicklich
prustete Michael los und versuchte den Körperumfang unseres einstigen
Schlagzeugers mit seinen Armen nachzuahmen. Der Gedanke kam mir so surreal vor.
Ich hatte Rico als einen schmächtigen, schlaksigen jungen Mann kennengelernt,
der immer unscheinbar hinter seinem Schlagzeug verschwand. »Und Patrick zieht
durch die Welt«, erzählte Michael weiter, nachdem er sich wieder etwas beruhigt
hatte. »Im Moment macht er glaube ich ein Work-and-Travel in Australien. Und
davor war er schon in den USA und Kanada. Anscheinend kann er sich mit einem
geregelten Leben nicht wirklich anfreunden.«
Auch daraufhin konnte ich nur die
Stirn runzeln. Patrick schien von uns Vieren immer der Vernünftigste gewesen zu
sein. Er hatte Mathematik und Physik studiert. Ich fand das thematisch zwar
auch interessant, aber es kam mir doch immer sehr trocken vor, wenn er davon
erzählt hatte. Er liebte die Gesetzmäßigkeiten und Regeln, die in der
Naturwissenschaft galten, hatte er mir damals erklärt. Alles hatte seinen Platz
und folgte einem festen Muster. Sein Leben hingegen war nun alles andere als
gesetzmäßig.
»Aber es kann ja auch nicht jeder so
vernünftig sein wie du und einem festen Job nachgehen«, wand Michael grinsend
ein, als er meine Zweifel bemerkte.
»Das sagst ausgerechnet du?«,
entgegnete ich mit einer Spur Spott in meiner Stimme. »Ich fahre keine BMW
Limousine und trage maßgeschneiderte Anzüge. Was machst du überhaupt?"
Er grinste immer noch über beide
Ohren, hielt aber einen Moment inne, als versuchte er die richtigen Worte zu
finden. »Ach hauptsächlich bin ich im Immobilienmarkt unterwegs. Ich hab mir in
den letzten Jahren ein schönes Portfolio zusammengestellt. Und wenn man bei
einem Millionenobjekt eine zehn prozentige Provision abgreift, kann man davon
schon ganz gut leben.«
Mir blieb die Luft weg. Ich nagte
zwar selbst nicht gerade am Hungertuch, aber das war unvorstellbar.
Hunderttausend Euro durch einen einzigen Deal. Das war Wahnsinn!
»Aber die schönste Zeit hatte ich,
als wir arm wie die Kirchenmäuse auf der Bühne standen.« Vorsichtig aber
bestimmt ergriff er meine Hand und sah mir tief und eindringlich in die Augen. »Diese
Momente sind unbezahlbar.«
Ich spürte wie mir das Blut in den
Kopf schoss und konnte förmlich vor meinem inneren Auge sehen, wie ich die
Farbe einer reifen Tomate annahm.
»Ja, das war wirklich schön«,
flüsterte ich und versuchte seinen Blick zu erwidern.
Meine Antwort schien ihn mit tiefster
Zufriedenheit zu erfüllen und auch in mir bereitete sich ein wohliges Gefühl
aus. Damals, zusammen auf den Brettern die die Welt bedeuteten, hatte immer
etwas Selbstverständliches und Vertrautes gelegen. Es gab keine andere denkbare
Konstellation als die unsrige.
Ich dachte an die unzähligen Nächte
in denen wir zusammengesessen und uns völlig der Musik hingegeben hatten. Der
Musik, die aus seiner Gitarre drang und aus meiner Kehle floss. Immer
harmonisch, selbst in Momenten der falschen Töne. Es passte doch irgendwie zusammen.
Und bei dem Gedanken daran wurde mir
erst so richtig bewusst, wie sehr ich das vermisst hatte. Wie sehr ich ihn an meiner Seite vermisst hatte. Er, der bis zu dem Tag vor zwei Jahren immer
ein Teil meines Lebens gewesen war und es nun vielleicht wieder sein würde.
* * *
Galant wie immer hatte Michael nach
unserem köstlichen Festmahl die Rechnung beglichen und fuhr mich nun wieder
zurück in mein Büro. Ich wusste, wie viel Arbeit dort noch auf mich wartete,
aber ich war unfähig, auch nur einen ernsten Gedanken daran zu verschwenden. Es
war der Moment, der mich
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