Schatten der Gegenwart (Für Immer & Länger)
Ratschlägen. Aber das alles ändert nichts. Es brachte mir Robert
nicht wieder.
»Ich habe sie ein halbes Jahr nicht
gesehen und als sie endlich entlassen wurde, war sie wie ausgewechselt. Sie
lachte, hatte Spaß am Leben und war vor allem froh, noch am Leben zu sein.« Ein
Lächeln trat in sein Gesicht. »Sie erzählte mir, dass es vor allem die
Gespräche mit anderen Betroffenen waren, die ihr aus dem schwarzen Loch
geholfen hatten.«
»Was willst du Alex?«
Er antwortete nicht sofort, sondern
zog eine Karte aus seiner Jackentasche und schob sie zu mir herüber. »Die
Gruppe ist für jeden offen«, fügte er dem Blatt hinzu.
Ich nahm die Karte in die Hand – »Kreis
der Gleichen« stand darauf und darunter Anschrift und Telefonnummer.
»Das ist dein Ernst, oder? Eine
Selbsthilfegruppe? Und Schwups ist alles gut? Wir fassen uns an den Händen,
murmeln Gebete und alles ist schick? Glaubst du das wirklich?«
War er wirklich so blauäugig?
»Du kannst es doch wenigstens mal
versuchen.« Es klang fast flehend.
Ich stand auf und zerknüllte dabei
die Karte in meiner Hand. »Ich habe keinen Hunger mehr!«
Einzig das Klackern meiner Absätze
drang zu mir durch, während das Blut vor Wut in meinen Ohren rauschte.
* * *
Das Gespräch mit Alexander hatte mich
den ganzen Tag über verfolgt und selbst jetzt, zu Hause, einem Ort der
Sicherheit bieten sollte, geisterten immer noch seine Worte in meinen Gedanken.
Alexander schien sich wirklich große
Sorgen um mich zu machen und ich hatte gespürt, dass es ihn sehr viel
Überwindung gekostet hatte, mir das alles zu erzählen.
Aber hatte er damit Recht? War ich
bereits im Strudel einer Depression gefangen, ohne es zu bemerken? Konnte man
so etwas nach drei Wochen überhaupt schon sagen?
Die letzte Frage blieb immer – Wie
sollte ich das alles nur schaffen? Wieder durchfuhr mich dieser unerträgliche
Schmerz, der mich schier zu zerreißen schien und versuchte mich in tausend
kleine Stücke zu spalten.
Ich setzte mich an meinen Laptop und meine
Finger begaben sich wie von selbst auf die Suche – die Suche nach einer
Selbsthilfegruppe. Zumindest sollte mir keiner vorwerfen können, nicht genug
daran gesetzt zu haben, überhaupt damit fertig zu werden. Das hätte mir Robert
niemals verziehen.
Gleich der zweite Treffer wies auf
die von Alexander beschriebene Gruppe hin: Kreis der Gleichen. Ich las den
kleinen Text, der darunter stand. »Nach dem Tod eines nahestehenden Menschen
geht das Leben weiter.« Das ging ja gut los. »Aber der Verlust bleibt. Ein
Gespräch, das Zusammensein können trösten und stark machen. Treffen Sie
Menschen, die ebenso die Erfahrung des Abschiedsnehmens machen mussten.
Besuchen Sie uns jeden Montag 17 Uhr. Eine Anmeldung ist nicht erforderlich.«
Wollte ich wirklich Teil einer
anonymen Masse werden? Würde das irgendetwas ändern können, wo es doch einzig
der Schmerz war, der mich peinigte – einzigartig und individuell?
Hatte ich etwas zu verlieren, wenn
ich mir dies einmal ansehen würde?
Kapitel
5
Ein einfachen Mehrfamilienhaus, mehr
war es nicht. Hier sollte es also sein. Wenn ich nicht die genaue Adresse
gehabt hätte, wäre ich nie darauf gekommen, dass hinter diesen Mauern jeden
Montag eine Gruppe Gleichgesinnter sich ihrem Schmerz hingaben.
Du darfst nicht so negativ denken,
versuchte ich mich selbst zu maßregeln. Sonst kannst du es gleich bleiben
lassen. Ich trat in den Hausflur und ging hoch in die erste Etage. Wenigstens
an der Tür war ein Schild angebracht, das mir zeigte, dass ich richtig war.
Mit zittrigen Händen betätigte ich
die Klingel und keine fünf Sekunden später wurde die Tür schon aufgerissen.
Eine zierliche, kleine Frau mit Hornbrille und grauem Haar öffnete mir.
»Entschuldigen Sie, ich suche den
Kreis der Gleichen. Bin ich hier richtig?«
Kurz musterte sie mich, schien
abzuschätzen, ob wir uns schon einmal begegnet waren und schob die Tür ein
Stück zur Seite.
»Kommen Sie herein. Sie sind herzlich
willkommen«, säuselte sie mit hypnotischer Stimme und ließ mich ein. »Sie sind
früh dran, die anderen werden wahrscheinlich erst in zehn Minuten da sein.
Legen Sie ruhig ihre Jacke ab und sehen Sie sich um. Den Gruppenraum finden Sie
auf der rechten Seite, links haben wir ein Gedenkzimmer eingerichtet und am
Ende des Ganges finden Sie die Toiletten. Ich muss noch etwas vorbereiten, wenn
Sie mich also kurz entschuldigen würden.« Die Worte sprudelten geradewegs wie
ein Wasserfall aus ihr
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