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Schatten der Gegenwart (Für Immer & Länger)

Schatten der Gegenwart (Für Immer & Länger)

Titel: Schatten der Gegenwart (Für Immer & Länger) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria Norda
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viel.«
    Sofort waren meine Gedanken wieder
bei Alexander, der nur versucht hatte, mir zu helfen und den ich so rüde angefahren
hatte.
    Und wieder hatte ich das Gefühl, sie
würde in meinen Kopf sehen und genau wissen, was ich dachte.
    »Man beginnt nach dem Verstorbenen zu
suchen. Manche tun es bewusst, andere unbewusst. Überall liegen die
Erinnerungen, die uns nicht loslassen wollen. Es ist einer der gefährlichsten
Phasen, denn schnell flüchten wir uns in eine eigene Welt, die gefüllt ist von
Erinnerungen und inneren Dialogen.« Sie wand sich ganz mir zu und umfasste
meine Schulter. Obwohl sie so zierlich wirkte, war ihr Griff fest und gab mir Halt.
»Und dann, ja dann beginnt eine neue Welt«, sprach sie und sie schien vor
Zuversicht zu sprühen. »Es geht nicht darum zu vergessen. Immer wird er ein
Teil von dir sein. Aber es wird neue Rollen geben, andere Menschen, dir bis
dato noch unbekannte Lebensweisen und auch neue Beziehungen.«
    Es klingelte an der Tür und ich
schien wie aus einem Traum zu erwachen.
    »Das sind die anderen. Geh doch schon
einmal in den Gruppenraum«, rief Sophie mir entgegen, während sie das Zimmer
verließ.
    * * *
    Wenn ich Sophie und mich mitzählte,
waren wir zu siebt. Jeder hatte auf einem Stuhl Platz genommen, die zusammen
einen Kreis bildeten. Während ich das Gespräch mit Sophie nicht erwartet hatte,
entsprach dies hier genau meinen Vorstellungen einer Selbsthilfegruppe. Ich kam
mir vor wie bei den Anonymen Alkoholikern.
    »Schön, dass ihr heute alle gekommen
seid. Bevor wir anfangen, möchte ich Emilia in unserer Gruppe willkommen heißen«,
sprach Sophie die anderen an und schenkte mir dabei ihm Vorbeiflug ein
aufmunterndes Lächeln. »Wenn ich mich recht erinnere, wollte uns Tanja heute
etwas über ihre Verleumdung erzählen.«
    »Verleumdung«, murmelte ein jeder vor
sich hin und es lag sehr viel Demut in diesen Worten.
    Fragend sah ich Sophie an, doch diese
hatte ihren Blick schon fest auf die Frau neben mir gerichtet.
    Tanja war eine etwas beleibtere Frau,
die die ganze Zeit ein Papiertaschentuch zwischen ihren Fingern zerrupfte. Schüchtern
schmiegte sie sich gegen ihre Stuhllehne. Sicherlich würden ihr kein einziges
Wort über die Lippen kommen.
    Die anderen schienen die Hemmungen
von Tanja zu spüren und wieder murmelte es im Chor: »Verleumdung«.
    Und als ob mit diesen Worten Kraft
transportiert wurde, begann die Frau neben mir mit leiser Stimme zu erzählen.
    »Ich bin alleinerziehende Mutter und
habe meinen Sohn verloren. Er war gerade erst neun Jahre alt geworden. Wir
hatten uns für das Wochenende einen Ausflug in den Harz vorgenommen. Ich
arbeite in Schichten und habe nicht sehr viel Zeit für ihn.«
    »Du hattest nicht sehr viel Zeit für
ihn«, berichtige Sophie sie im gleichen Atemzug.
    Musste das sein? Diese Frau litt und
hier wurden Zeitformen berichtigt?
    Doch Tanja schien dieser Einwand
nicht zu stören. Sie nickte nur und fuhr dann fort. »Mein kleiner Tim war so
aufgeregt, dass er ohne nachzuschauen auf die Straße gelaufen ist. Er wurde von
einem LKW erfasst, der es nicht mehr rechtzeitig geschafft hatte zu bremsen.«
    Tränen füllten ihre Augen und flossen
alsbald in kleinen Flüssen ihre Wange entlang. Sie musste mehrfach schlucken,
um ihre Stimme wieder unter Kontrolle zu bekommen.
    »Ich konnte das alles nicht begreifen«,
setzte sie wieder ein. »Überall hörte ich das Lachen meines kleinen Jungen und
ich konnte es einfach nicht wahrhaben. Ich konnte das einfach alles nicht
verstehen, ich –« Ihre Stimme versagte.
    »Verleumdung«, raunte es wieder.
Diesmal schien jedoch die Kraft nicht auszureichen, um sie zum Weiterreden zu
bewegen.
    »Tanja, er ist tot. Er wird nicht
wieder kommen«, sagte Sophie mit strenger Stimme.
    Wo war das Mitgefühl? Wo war die
Unterstützung? Musste das alles so brutal sein?
    »Ja. Er ist tot«, hörte ich Tanja
neben mir flüstern und wand mich automatisch zu ihr um. »Er ist tot, aber ich
werde ihn niemals vergessen.«
    »Erzähl uns doch bitte Tanja, wie du
diese Phase der Verleumdung verlassen hast«, ermunterte Sophie ihre Gegenüber.
    »Ich habe die Geburts– und
Sterbeurkunde meines kleinen Tim einrahmen lassen – beide direkt nebeneinander.
Das Bild habe ich neben meinem Bett aufgehangen. Es ist das Erste was ich sehe,
wenn ich aufwache und das Letzte was ich sehe, wenn ich schlafen gehe. Mein
kleiner Tim war mal da, er hat gelebt, aber jetzt ist er tot. Und ich werde ihn
niemals vergessen.«
    Tanjas

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