Schatten der Gegenwart (Für Immer & Länger)
Haltung war auf einmal eine
ganz andere, als hätte dieses Geständnis ihren Rücken gestärkt. Sie hatte sich
im Stuhl aufgerichtet und die Schultern zurückgezogen. Doch während ihr diese
Offenbarung anscheinend geholfen hatte, schnürte es mir die Kehle zu.
Eine Welle aus purem Schmerz
durchfuhr meinen Körper bei dem Gedanken daran, dass auch ich etwas würde sagen
müssen. War auch ich heute noch dran? Würde auch ich mich so offenbaren müssen?
Sophie schien meine Angst zu fühlen.
Ihre Blicke durchbohrten mich und ich hatte das Gefühl, dass wir uns eine
Ewigkeit nur ansahen. War das ein leichtes Kopfschütteln, das ihr Haar sanft
hin und her wog?
»Das war sehr gut Tanja«, lobte
Sophie meine Nachbarin und es klang fast so, als hätte sie die Worte an ein
Kind gerichtet, dass eben ein Gedicht richtig rezitiert hatte. »Wolfgang, was
ist mit dir? Erzählst du uns auch deine Geschichte?«
Die Worte galten einem Mann, der in
feinem Anzug dasaß. Er strahlte eine tiefere, innere Ruhe aus und ich konnte
mir kaum vorstellen, dass auch er von Schmerz und Trauer gequält wurde.
Er räusperte sich. »Ich hatte mit
meiner Tochter seit drei Jahren kein Wort mehr gewechselt. Wir waren im Streit
auseinandergegangen und jeder von uns beiden war zu stur, um auf den anderen
zuzugehen«, begann er zu erzählen und seine Stimme klang dabei genauso ruhig,
wie er wirkte.
Welche Horrorgeschichte würde als
nächstes kommen? Der Vater, dessen letzte Worte an seine Tochter aus
Beschimpfungen und Vorwürfen bestanden hatten? Ich traute mich kaum hinzuhören,
als die ruhige Stimme fortsetzte.
»Ich sah sie erst auf der Beerdigung
von Magarete wieder. Ihr Bauch hatte schon eine kleine Wölbung und wenn meine
Frau nicht gestorben wäre, wüsste ich wahrscheinlich heute noch nicht, dass ich
bald Opa werde würde.«
»Eine neue Welt«, surrte es vibrierend
durch den Raum.
* * *
Im Anschluss an die Sitzung waren
alle im Gedenkraum zusammen gekommen. Noch einige Geschichten wurden erzählt,
doch niemand hatte auch nur einmal das Wort an mich gerichtet. Ich war noch
einmal davon gekommen, doch wie oft konnte man schweigend einer Runde beiwohnen
und wie oft könnte ich mir die Erinnerungen fremder Menschen anhören?
Es hatten sich kleine Gruppen
gebildet, jeder unterhielt sich ausgelassen mit jemandem. Es wurde gelacht,
geschwiegen, diskutiert und ich kam mir dabei völlig fremd vor.
Ich stand an einem Sideboard und
schenkte mir noch eine Tasse Kaffee ein.
»Würdest du mir auch eingießen?«,
fragte es von der Seite und eine Tasse erschien neben mir. Es war eine kleine
rundliche Frau, vielleicht Mitte fünfzig. Ich hatte ihren Namen vergessen und
auch an die Geschichte, die sie erzählt hatte, konnte ich mich nicht mehr
erinnern. Hatte sie überhaupt etwas gesagt?
Irgendwann hatte ich aufgehört
richtig zuzuhören. Es kam mir vor, als würde ich heimlich Lauschen, als würden
Worte an mein Ohr dringen, die nicht für mich bestimmt waren.
»Hat es dir gefallen?« In ihren Augen
lag aufrichtige Neugier.
»Nun, ich denke. Ich meine, ja«,
stammelte ich, wusste ich doch selbst noch nicht, was ich von alledem halten
sollte.
»Mach dir keine Sorgen. Mir ging es
am Anfang ganz genauso«, sagte sie und nippte an ihrem Kaffee. »Wie lange ist
es denn schon her?«
»Etwas mehr als drei Wochen.« Dieses
Gespräch ging in eine Richtung, die mir überhaupt nicht behagte.
Doch die kleine Frau neben mir nickte
nur. »Bei mir sind inzwischen fast zwei Jahre.«
Verwundert sah ich sie an und sie
lächelte zurück. Ihr Gesicht war übersät mit kleinen Lachfalten, die sich um
ihren Mund und ihre Augen abzeichneten. Sie schien ein glücklicher Mensch zu
sein.
»Und du fragst dich nun sicherlich,
was ich hier noch mache.« Ich nickte. »Nun, so genau weiß ich das selbst nicht.
Ich komme nicht jede Woche, nur ab und zu, wenn ich das Gefühl hab, dass er mir
entflieht. Ich war 27 Jahre mit meinem Mann verheiratet. Eine lange Zeit, ich
weiß und da könnte man doch meinen, dass man genug Erinnerungen gesammelt hat,
um die restlichen Lebensjahre auch noch zu überstehen.«
Wieder traf mich diese
allgegenwärtige Offenheit wie ein Schlag.
Wie schafften sie das nur alle?
»Aber mit dem Alter lässt auch das
Gedächtnis nach und irgendwann reicht einem der Fundus nicht mehr, an den man
sich noch erinnern kann. Tja und wenn ich hier bin und sehe, wie andere das
durchmachen, was ich schon hinter mir gelassen habe, dann fühle ich mich ihm
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