Schatten Der Versuchung
»Ich kann seine Nähe nicht mehr fühlen. Spürst du etwas?«
Vikirnoff glaubte nicht, dass Natalya die Anwesenheit des Wesens überhaupt gefühlt hatte. Was sie unter den Stufen zu spüren geglaubt hatte, war nicht mehr als eine Täuschung gewesen – eine, auf die sie nicht hätte hereinfallen dürfen.
Natalya schüttelte den Kopf. »Der Eingang ist hier, Vikirnoff. Wir müssen ihn bloß finden.«
»Was ist aus ›Vik‹ geworden?«
Sie blickte auf, als sie seinen scherzenden Ton hörte, und grinste schwach. »Ich möchte nicht, dass du glaubst, es wäre ein Kosewort oder so etwas.«
»Ich denke, in dieser Beziehung hast du nichts zu befürchten.« Er stand direkt hinter ihr und schirmte sie mit seinem Körper ab, während er auf ein paar blasse Zeichen im Eis deutete. »Was ist das?«
»Das sind alte Symbole.«
»Kannst du sie lesen?« Es war lange her, seit er so etwas gesehen hatte, und in diesem Punkt konnte er sich nicht unbedingt auf sein Gedächtnis verlassen.
»Natürlich.« Sie bewegte ihre Hände mit großer Sicherheit und berührte verschiedene Symbole, um ein Muster anzuordnen. »Er liebt Muster.«
Vikirnoff legte seine Hände auf ihre Schultern. »Wer liebt Muster?«
Natalya legte den Kopf zurück und schaute ihn stirnrunzelnd an. »Was?«
»Du hast gesagt, dass er Muster liebt. Wen meinst du, Natalya?«
Sie rieb sich die pochenden Schläfen. »Ich weiß es nicht. Ich hasse es, mich an so viele Sachen nicht erinnern zu können. Ich hasse es wirklich, Vikirnoff.«
Seine Finger massierten ihren Nacken und lösten die Verspannungen. »Mach dir darüber jetzt keine Gedanken. Denk nur daran, wie du den Eingang für uns öffnen kannst. Das mit deinem Gedächtnis kriegen wir schon noch hin.«
Kapitel 10
N atalya durchlief hastig die Abfolge der Symbole, um den Ausgang zu öffnen. Mehr als alles andere wünschte sie sich, endlich aus dieser Höhle herauszukommen. Sie warf Vikirnoff rasch einen Blick über die Schulter zu, ehe sie weitermachte. »Ich hätte nie auch nur daran denken dürfen, deine Erinnerungen zu löschen. Ob ich es überhaupt gekonnt hätte, zählt dabei nicht. So etwas ist eine Gemeinheit. Es ist ein Unrecht. Ich kann dir gar nicht sagen, wie furchtbar der Gedanke ist, dass sich jemand an meinem Gehirn zu schaffen gemacht hat, um bewusst meine Kindheit zu löschen und Gott weiß was noch zu tun. In meinem Kopf tauchen immer wieder blitzartig Dinge auf, an die ich mich nicht erinnern kann, und das macht mich wahnsinnig.«
Die Tür öffnete sich knarrend, und helles Licht, das ihnen beiden beinahe die Sicht raubte, fiel durch den Spalt. Natalya hielt sich die Augen zu. »Ist es schon Morgen?«
»Nein, aber es ist kurz vor Tagesanbruch, und wir waren stundenlang unter der Erde. Lass deinen Augen einen Moment Zeit, sich an die Helligkeit zu gewöhnen.« Er legte einen Arm um ihre Schultern, und sie lehnte sich kurz an ihn.
»Wie sollen wir dieses Ding vollständig von meinem Bein kriegen?« Sie fuhr mit den Fingerspitzen über seinen Arm und atmete die frische Luft ein.
»In ein, zwei Tagen bin ich wieder bei Kräften. Wenn ich es dann immer noch nicht entfernen kann, müssen wir dich zu einem mächtigen Heiler bringen. In der Zwischenzeit musst du sehr vorsichtig sein.«
Seine Finger massierten sanft ihren Nacken, um die Verspannungen zu lösen. Es war ein unvorstellbar schönes Gefühl, das Natalya wie ein Geschenk empfand. Im Grunde war es nur eine Kleinigkeit, aber sie war so lange allein gewesen, ohne jemanden, der ihr Trost geben, mit dem sie reden, lachen oder streiten konnte.
Auf ihre Sehnsucht nach Nähe reagierte sie mit gemischten Gefühlen. Vikirnoff und sie hatten in viel zu kurzer Zeit zu viel erlebt, und Natalya traute dieser Sache und ihm nicht unbedingt – und sich selbst schon gar nicht. Nach der aufwühlenden Erfahrung, die Vergangenheit zu durchleben und Zeuge der Morde an ihren Eltern und ihrer Großmutter zu werden, war sie seelisch angeschlagen und erschüttert und fühlte sich viel zu verletzlich, um sich in dieser Verfassung einem anderen auszuliefern. Sie brauchte Distanz zu Vikirnoff, um ihre Kraft und ihre Perspektive wiederzufinden.
Natalya straffte ihre Schultern und trat in die kühle Luft des frühen Morgens hinaus. Sie befanden sich auf dem Berg, aber nicht in der Nähe des Gipfels und schon gar nicht in der Nähe des Eingangs, den sie benutzt hatten. Der Wind zauste ihr Haar und streichelte ihr Gesicht, als sie in tiefen Zügen die frische
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