Schatten des Wahns: Stachelmanns dritter Fall (German Edition)
ihm, ob er es wollte oder nicht. Das hatte er lange als Zusammengehörigkeit empfunden, jetzt drückte es ihn als Last, von der er sich befreit hätte, wenn es möglich wäre. Er musste lernen, mit dem Gefühl zu leben, ohne es als Gefangenschaft zu empfinden. Denn er wusste, er würde es nicht abstreifen können wie eine Socke.
Es gelang ihm, einige Seiten abzuarbeiten, er musste nicht viel korrigieren. Der Optimismus kehrte zurück, es war kein schlechter Tag, die Woche fing gut an. Warum sollte er wegen Anne trübselig sein, sie hatten doch immer mehr Reibungen gehabt als Zeiten der Harmonie. Trotzdem, es war nichts entschieden. Wenn sie ein Kind mit einem anderen zeugen konnte, dann durfte er sich einen schönen Abend machen mit einer schönen Frau, vielleicht auch mehr. Mit Ossis Freundin, dachte er, und der würde es sehen und wäre zufrieden. Ganz bestimmt.
Jetzt war er doch so oft mit Carmen zusammen gewesen, ohne nervös geworden zu sein. Am Abend, als er doch einiges geschafft hatte, ging er zu den Toiletten und verharrte eine Weile vor dem Spiegel. Schöner wirst du nicht, sagte er leise vor sich hin. Er schaute auf die Uhr, bald war es so weit. Seltsam, er spürte keinen Schmerz im Rücken oder anderswo, das hatte er ewig nicht mehr erlebt. Er horchte in sich hinein. Doch, in der Brust saß eine Beklemmung, er würde langsam laufen, um nicht in Atemnot zu kommen.
Er fuhr allein mit dem Aufzug hinunter. Es war kaum jemand zu sehen wegen der Semesterferien. Vor der Eingangstür des Philosophenturms blieb er stehen und sog die Luft ein. Er sah den Beton und überlegte, warum das ein Park sein sollte. Der Hexenturm in Heidelberg fiel ihm ein, mit dem Rasen davor, auf dem oder auf dessen Ummauerung Studenten saßen, lasen oder dösten oder sich über Ohrstöpsel Musik in den Kopf dröhnten. Dort war es schön, hier war es in Zement gegossen. Er stellte sich ein paar Sekunden vor, wie es wäre, sich auf eine Professur in Heidelberg zu bewerben. Die alten Koryphäen dort waren abgetreten, die Verhältnisse wurden neu sortiert, und wahrscheinlich war sogar der Ordnungswahn des Bundes Freiheit der Wissenschaft abgeebbt in dem Maß, wie der Veränderungseifer der Studenten dem Karrierestreben gewichen war.
Unsinn, dachte er. Er ging los in Richtung Grindelhof, es war ein kurzer Weg. Den Tag über hatte die Sonne geschienen, aber nun blies ein Wind kalte Luft durch die Straßen. Er fröstelte, zog das Jackett am Hals zusammen, dann öffnete er es wieder, weil er beim Laufen zu schwitzen begann. Als Stachelmann die Tür des Lokals sah, schaute er auf die Uhr. Sie waren für sieben Uhr verabredet, er war zu früh. Er würde sie nicht warten lassen. Aber als er die Tür öffnete, sah er sie an einem Tisch an der Rückwand. Vor ihr standen ein Glas und eine Flasche Mineralwasser. Daneben lagen zwei Speisekarten mit einem auf ein Symbol vereinfachten Löwenkopf.
»Hoffentlich habe ich dich nicht zu lange warten lassen«, sagte er.
»Ich war zu früh, geschieht auch nicht alle Tage.« Sie stand auf und nahm ihn in die Arme. Sie küsste ihn auf die Wange, strich ihm mit der Hand über den Kopf und sagte: »Schön, dass du da bist.«
»Blieb mir ja nichts anderes übrig.«
Sie verzog ihr Gesicht in gespielter Empörung. »Dann kann ich ja wieder gehen, wenn du dich lieber allein amüsierst.«
Er legte seine Hand auf ihre. Dann sagte er, ohne die Hand wegzunehmen: »Bevor du beleidigt verschwindest, solltest du eine Kleinigkeit essen. Knatschig sein schlägt auf den Magen.«
Sie drehte ihre Hand, sodass sich beider Handflächen berührten. Ihr Zeigefinger streichelte seinen Handrücken.
Als die Kellnerin erschien, hatten sie noch nichts gewählt. Sie lächelte und ging.
Er ließ ihre Hand nicht los, als er zur Speisekarte griff. »Ich habe gar keinen Hunger, andere Dinge schlagen auch auf den Magen.«
Sie lachte leise und schaute mit ihm in die Speisekarte. Sie bestellten zwei Gerichte, Gemüse mit Rindfleisch, pikant, als die Kellnerin wieder erschien, dazu Wasser. Die Kellnerin warf einen Blick auf die verschränkten Hände und schrieb die Gerichte auf.
Eine Weile sagten sie nichts. Dann fragte Carmen: »Und wenn ich jetzt in der Nase bohren muss?«
»Kannst du das nicht mit links? Und, wenn ich das sagen darf, es gilt als unanständig.«
»Ach so, gut, dass du es mir sagst.« Dann zog sie ihre Hand zurück und kratzte sich am Ohr. »Das ist komisch.«
»Was?«
»Ich frage mich, was Ossi dazu sagen
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