Schatten des Wahns: Stachelmanns dritter Fall (German Edition)
würde.«
»Wozu?«
»Ich dachte, du wärst Akademiker.«
Er lachte leise. »Manchmal bin ich mir da nicht so sicher.«
»Dann scheint jetzt wieder einer dieser Augenblicke des Zweifels angebrochen zu sein.«
»Ossi sitzt im Himmel und freut sich«, sagte Stachelmann. »Ganz bestimmt.«
»Ich glaube es auch, er hat dich sehr gemocht. Aber er hat geglaubt, irgendwann sei der Faden gerissen.«
»Das ist wahr. Was uns verbunden hat, gibt es längst nicht mehr. Es war ein Wahn, der Glaube, die Welt mit einem Schlag verbessern zu können. Der Glaube an den Wahn verbindet die Wahnsinnigen enger, als Außenstehende sich das vorstellen können. Aber wenn der Wahn geplatzt ist, bleibt nur wenig übrig. Vor allem die Erinnerung an den Zusammenhalt zu Zeiten des Wahns. Das ist nicht wenig, genügt meist aber nicht, eine neue Beziehung aufzubauen. Die bezieht sich allein auf die Vergangenheit.«
»Veteranentreffen«, sagte sie.
»Wie bei alten Nazis«, sagte er.
»Du übertreibst.«
»Ja«, sagte er. »Das tu ich gerne.« Er strich ihr zart über die Wange. Dann nahm er wieder ihre Hand. »Aber wenn man sich Filme anschaut von Treffen ehemaliger Ritterkreuzträger oder der HIAG, dann sieht man, dass diese Leute auch nur in der Vergangenheit leben, und selbst das, was sie zu heutigen Fragen sagen, stammt aus der Vergangenheit. Der Unterschied ist, sie können nicht loslassen, wir können das. Und bei uns ist die Verstrickung in Verbrechen eher theoretisch, bei denen geht es um Massenmord.«
»HIAG, was ist das?«
»Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS.«
»Um Himmels willen, Themawechsel.« Aber dann fragte sie doch: »Verstrickung bei euch, was soll das gewesen sein?«
»Wir haben jede revolutionäre Bewegung irgendwo auf der Welt vergöttert, wo wir doch wissen mussten, dass viele von denen Andersdenkende, auch in den eigenen Reihen, verfolgt, gefoltert und ermordet haben. Oder wir haben die Demokratie in Westdeutschland als faschistoid denunziert, während wir, ich sage es zurückhaltend, Irre wie die RAF ein wenig verstehen konnten. Wir haben von politischen Gefangenen geredet, von Isolationsfolter und so weiter, während Baader, Meinhof, Ensslin Privilegien genossen, von denen andere Strafgefangene nicht mal zu träumen wagten.«
»Ossi hat manchmal darüber gesprochen. Aber er wollte nicht diskutieren. Da hat er getrunken und mit sich selbst geredet. Einmal hat er gesagt, er sei deswegen Polizist geworden. Ob es stimmt, ich weiß es nicht. Er hat dazu geneigt, sich die Dinge zurechtzulegen, auch die eigene Biographie.«
»Manche geben dem Drang nach, andere weniger«, sagte Stachelmann. »Was Ossi angeht, ist es inzwischen egal.«
Die Kellnerin brachte das Essen und Mineralwasser. Als sie gegangen war, führte Stachelmann Carmens Hand an den Mund und küsste sie. »Wann hast du wieder Dienst?«, fragte er.
»Ich habe morgen frei, feiere Überstunden ab. Ich dachte, vielleicht fällt uns etwas ein, das wir zusammen machen könnten. Ich suche keine Mörder, und du lässt die Akten im Staub liegen. Das Wetter soll ganz gut werden.«
»Ausschlafen«, sagte Stachelmann, und ihm fiel Felix' Geschrei ein, das der immer dann anstimmte, wenn es überhaupt nicht passte, morgens um sechs Uhr etwa, wenn er die Augen aufschlug und Mama nicht sah.
»Sehr phantasievoll. Klingt fast so wie lass uns nach Venedig fliegen und Gondel fahren.«
»Wir könnten nach Pisa fliegen, da gibt's Billigflüge ab Lübeck-Blankensee.«
Sie lachte und stocherte in ihrem Essen. »War nicht so gemeint.«
Sie aßen und schwiegen. Nach ein paar Bissen schob Carmen ihren Teller mitsamt dem Besteck weg. »Schmeckt gut, aber ich habe keinen Hunger.«
»Ich auch nicht«, sagte Stachelmann. »Ich lade ein.«
»Nicht nötig«, sagte sie, »aber ich wage natürlich nicht, dir zu widersprechen.«
Sie verließen die Gaststätte, draußen nahm er sie in den Arm. Eng umschlungen gingen sie durch den Von-Melle-Park. Vor dem Philosophenturm küsste er sie, sie schien darauf gewartet zu haben.
»Ich habe dich immer gemocht«, sagte sie.
»Am liebsten wäre ich von dir verhaftet worden. Erinnerst du dich? Aber es mussten diese doofen Lübecker Polizisten sein, humorlos und hässlich.«
»Das ist Beamtenbeleidigung«, sagte sie.
»Dann kannst du die Verhaftung ja gleich nachholen, ich nehme nichts zurück.«
»Wohin gehen wir eigentlich?«, fragte sie.
»Zu dir«, sagte er.
»Wie gut, dass ich das
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