Schatten des Wahns: Stachelmanns dritter Fall (German Edition)
die beiden Herren nicht in Hamburg waren und ein Alibi haben, dann habe ich mich geirrt. Ich schließe das zwar aus, aber wenn sie zu diesem Zeitpunkt in Hamburg waren, dann sind sie gewiss die Täter.« Diese Äußerung fand Stachelmann raffiniert und gezielt naiv zugleich. Er spürte ein wenig Stolz.
Der Polizist schrieb die Anzeige fertig, dann druckte er sie aus und reichte sie Stachelmann zur Unterschrift. Der überflog das Papier, entdeckte zahlreiche Rechtschreibfehler, sagte aber nichts dazu und unterschrieb. Der Polizist sagte: »Sie hören von uns.«
Stachelmann lief zum Bahnhof, musste aber fast eine halbe Stunde warten, bis der Zug nach Hamburg fuhr. Er schlenderte durch die Baustelle, überlegte, wie der Bahnhof werden würde, und merkte, dass sich seine Laune besserte.
Er hat den entscheidenden Schachzug gemacht. Kipper und Detmold wussten es noch nicht, aber sie waren matt. Der König war tot, Opfer der Stachelmann'schen Verteidigung, eine durchtriebene Fortentwicklung des Damengambits, die nur in dieser Art Fernschach funktionieren konnte. Matt, ohne es zu merken. Waren Detmold und Kipper in Hamburg, als Ossi starb, dann waren sie seine Mörder. Welcher Grund sollte sie sonst hierher geführt haben? Stachelmann zweifelte nicht, die beiden waren in Hamburg gewesen. Ossi hatte sie in die Enge getrieben, die hatten was zu tun mit dem Thingstättenmord und mussten Ossi mundtot machen. Und nur ein Arzt konnte diesen Mord fast perfekt in einen Suizid verwandeln. Darauf musste man erst mal kommen, ein Schmerzmittel und ein Insulinspray. Ein Arzt wusste auch, wie man keine Spuren hinterließ in einer Zeit, in der eine Haarspitze genügte, um ein DNS-Profil zu erstellen. Der hat sich seine OP-Kleidung mitgenommen. Genial, ein Mord, der un-entdeckt bleiben musste und der nun aufflog, weil Stachelmann nicht glauben wollte und Hintergründe kannte, welche die Polizei nicht kannte. Seit langem war Stachelmann nicht stolz auf sich gewesen, jetzt genoss er diesen Zustand umso mehr. Er würde sich nun an seine Arbeit setzen und am Abend seinen wahrlich privaten Detektiv in Heidelberg anrufen. Vielleicht hatte der etwas entdeckt, das die Entwicklung beschleunigte.
Er wollte gerade die Stahltür zu seinem Dienstzimmer aufschließen, als Bohming auftauchte. »Josef, du hattest dich wohl ganz in deine Arbeit vergraben, gut so. Schaffst du es?«
Stachelmann hoffte, Bohming würde ihm nicht ansehen, dass er sich erschreckt hatte. »Ja, ja, gewiss. Ich werde pünktlich abgeben.«
»Das ist auch unbedingt nötig, wie du weißt. Ich komme sonst in Teufels Küche.«
»Klar«, sagte Stachelmann, winkte unbeholfen, blieb einen Augenblick stehen und verzog sich schließlich ins Zimmer. Er atmete schwer durch, als er sich auf seinen Schreibtischstuhl setzte. »Ich komme in Teufels Küche«, so etwas konnte nur Bohming sagen. Der Einzige, der dem Teufel zum Fraß vorgesetzt werden würde, war Stachelmann.
Er schaute sich um, als wäre er ewig nicht hier gewesen, dann schaltete er den Computer ein. Nachdem er die Mails sortiert und die meisten ungelesen gelöscht hatte, kopierte er die Datei der Habilschrift vom Notebook auf den PC und machte sich wieder an die Korrektur. Es kostete ihn viel Kraft, sich darauf zu konzentrieren. Aber er sagte sich, er könne ohnehin nichts anderes machen, und tatsächlich gelang es ihm, einige Seiten durchzuarbeiten, ohne dauernd an anderes zu denken. Je näher aber der Abend rückte, desto größer seine Unruhe, er fieberte dem Telefonat mit Wolf entgegen. Dann fiel ihm seine Mutter ein, und das schlechte Gewissen kehrte zurück.
Er rief im Krankenhaus an. Sie klang schwach. Nein, es gebe keine neuen Befunde. Ja, es wäre schön, wenn er sie besuchen würde. Aber nur, wenn er Zeit habe. Er müsse wissen, er habe nicht viel von einem Besuch, sie sei doch meist müde, das liege wohl an den Tabletten.
Nach dem Telefonat war er eine Weile niedergeschlagen, aber dann dachte er wieder an den Thingstättenfall und wie er ihn fast schon gelöst hatte. Alle sind sie reingefallen, diese Experten, bis der Herr Stachelmann ihnen gezeigt hat, was eine Harke ist. Er grinste. Es wird ihnen peinlich sein.
Nachdem er das Gefühl seines Erfolgs einige Sekunden genossen hatte, machte er sich wieder an seine Arbeit. Heute, wo sein Selbstbewusstsein so groß war, gefiel ihm auch, was er geschrieben hatte. Nun wusste er, er hatte einiges entdeckt über die Struktur der nationalsozialistischen
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