Schatten eines Gottes (German Edition)
dort.«
Octavien starrte auf das Menschengewimmel. Hunderte, vielleicht Tausende von Kindern hatten sich dort niedergelassen. Der Kinderkreuzzug! Wenn der Junge hier untergetaucht war, war seine Suche vergebens.
Es traf ihn wie ein Keulenschlag. Er war gescheitert. Das kostbare Vermächtnis des Herrn hatte er schlecht gehütet. Für ein paar nette Worte mit einer Dirne hatte er es aus seinen Augen gelassen und aus seinem Gedächtnis getilgt. Es war so furchtbar, dass es ihm Schmerzen bereitete, darüber nachzudenken. Und doch konnte er nichts anderes tun. Wie sollte er das Emanuel beibringen? Am liebsten wäre er auf der Stelle umgekehrt und nach Aachen geritten wie ein feiger Hund, der sich bei Gefahr in seine Höhle verkriecht. Doch diese Feigheit würde ein Leben lang an ihm kleben bleiben. Nein, er musste es Emanuel beichten.
Emanuel war noch nicht zurück von seinen Kirchenbesuchen. Octavien warf sich auf das Bett in ihrer Herberge und starrte an die Decke. Noch konnte er Mainz verlassen, hämmerte es in seinem Schädel. Was ging es ihn noch an, dieses Pergament? So etwas hatte er nicht finden wollen, als er von Aachen fortgeritten war. Aber so viele Entschuldigungen er auch für sich fand, er konnte der Tatsache, dass er versagt hatte, nicht ausweichen.
Als Emanuel gegen Abend zurückkehrte und Octavien bleich und schweißüberströmt auf dem Bett vorfand, glaubte er, der Templer sei krank. Octavien starrte ihn merkwürdig an, fast wie ein ängstlicher Junge.
»Geht es Euch nicht gut, Octavien?«, fragte Emanuel teilnahmsvoll, während er sich auf einen Stuhl setzte und seine müden Beine ausstreckte.
Octavien erhob sich. Immer wieder hatte er sich vorgesagt, wie er es Emanuel beibringen wollte, doch nun versagte ihm beinahe die Stimme, seine Kehle war staubtrocken. »Das Pergament ist weg«, würgte er heiser hervor.
»Wie? Was heißt weg?«
»Es wurde mir gestohlen.«
Darauf fand Emanuel keine Worte. Er war nicht minder entsetzt als Octavien. »Gestohlen von wem?«, fragte er schließlich.
Octavien erzählte stockend, wie es sich zugetragen hatte, verschwieg aber Agnes dabei. Er erfand das bunte Treiben eines Marktes, wo es sich zugetragen habe. Und dann war der Junge bei den Kindern des Kreuzzuges untergetaucht.
Emanuel hatte sich während des Berichtes wieder gefasst. Er sah die Qual auf Octaviens Gesicht, und er tat ihm leid. »Betrachten wir es als Gottes Fügung«, erwiderte er beschwichtigend. »Der kleine Dieb weiß doch mit den Schriften nichts anzufangen und wird sie irgendwo wegwerfen. Dort werden sie, so Gott will, verrotten, als hätte es sie niemals gegeben. Durch diesen Diebstahl hat der Herr in seiner Weisheit uns von der schweren Bürde der Verantwortung befreit, weil er erkannt hat, dass wir sie nicht tragen können.«
So also geht die Kirche mit unangenehmen Wahrheiten um
, dachte Octavien, doch zum ersten Mal war er dankbar dafür. Seine Erleichterung über die Absolution war so groß, dass er beinahe aufgeschluchzt hätte. Unwillkürlich wischte er sich mit dem Ärmel über das Gesicht.
»Aber Herr Templer«, tadelte Emanuel ihn sanft, »dafür nehmen wir doch ein Taschentuch.«
***
Agnes wartete zwei Tage, aber Octavien kam nicht zurück. Sie war wütend, und sie war traurig. Vor allem aber war sie von einer nie gekannten Lustlosigkeit befallen. Alles ging schief. Mainz schien ihr kein Glück zu bringen. Sie hasste es, hinter ihrem Stand zu stehen, weil sie der Platz ständig an Octavien erinnerte. Am liebsten wäre sie fortgegangen. Aber wohin? Wäre es in anderen Städten vielleicht besser? In Rom! Ja, dort meinte sie, wachse für jeden das Glück, der es am Schopfe packte. Dort sollte der Himmel ewig blau sein und die Luft mild, auch im Winter. Aber nicht einmal der Spielmann, der gesellschaftlich auf unterster Stufe stand, hatte sie mitnehmen wollen.
›Schließt Euch den Kindern an, sie gehen nach Italien‹, hatte er gesagt. Für diesen abfälligen Ratschlag hatte sie ihm Apfelwein über den Kopf gegossen. Sie hielt die Kinder für Narren, die von böswilligen Kirchenmännern dazu angestiftet worden waren. Inzwischen war sie nicht mehr so sicher, ob es ein schlechter Ratschlag gewesen war. Weshalb nicht mit den Kindern gehen? Dort gab es einen gewissen Schutz und auch Führung.
Als sie sich mit dem Gedanken näher vertraut gemacht hatte, beschloss sie, hinaus auf die Wiesen zu gehen, um sich einen Eindruck zu verschaffen. Dort sollte ein großer Haufe von ihnen
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