Schatten eines Gottes (German Edition)
Schriften zu studieren. Die Erweiterung des Geistes durch fremde Einflüsse barg mannigfaltige Gefahren, und die Klugheit und Gewandtheit, sie auf die rechte Weise zu gebrauchen, war den meisten nicht gegeben. Selbst die Kirche, so hatte Emanuel herausgefunden, verfügte nur über einen gewissen Anteil an allgemeiner Bildung. Sie verwahrte viele Schätze der Vergangenheit, aber sie nutzte sie nicht. Sie fürchtete sich vor ihnen, weil sie ihre enge Glaubenswelt zerstört hätten. Vielleicht hatte sie recht damit, denn auch Emanuels Glauben war durch das Studium heidnischer Schriften, durch das Einfließen unzähliger Gedankenströme in seinen regen Geist wie ein schöner, aber einfältiger Kindertraum zerronnen. Er empfand dies jedoch nicht als Verlust und dachte nicht daran, deshalb auf weiteren Wissenserwerb zu verzichten. Er wusste, dass es überall auf der Welt Menschen wie ihn gab, die aus dem Meer des Unwissens herausragten wie die Kirchtürme über die Strohdächer eines Dorfes. Ihnen, nicht der Kirche, fühlte er sich verbunden. Aber um in dieser Welt bestehen zu können, brauchte er die kirchlichen Strukturen.
Er war so vertieft in die Lektüre antiker und muslimischer Schriften, dass er kaum merkte, wie die Tage vergingen. Bis spät in die Nacht war er am Lesen, und so manche Stundenkerze musste daran glauben. Alles teure Bienenwachskerzen, die zudem einen aromatischen Duft verbreiteten. Aber er brauchte nicht zu sparen, sondern durfte sich einen ganzen Vorrat davon zulegen. Nathaniel kam oft vorbei, lobte seinen Wissensdurst, und häufig kam es zwischen ihnen zu religiösen Disputen, die Emanuel sehr genoss, denn der Abt war ein scharfsinniger Denker und in Dialektik hervorragend geschult.
Auch die übrigen Mönche behandelten ihn stets freundlich, ja mit einer gewissen Hochachtung, die über das hinausging, was einem gewöhnlichen Ordensbruder zustand. Das Essen war gut und reichlich, und es wurden mehrere vorzügliche Weinsorten angeboten.
Auch Octavien hatte keinen Grund sich zu beklagen. Die Kartäusermönche in St. Marien pflegten einen Zeitvertreib, der in anderen Klöstern nicht üblich war. Sie gingen auf die Jagd und waren hervorragend im Bogenschießen und im Fechten ausgebildet. Auf diese Weise konnte sich Octavien den für einen adligen Junker üblichen Beschäftigungen hingeben. Seine Räumlichkeiten wurden täglich gesäubert, und wann immer ihm danach zumute war, konnte er ein Bad nehmen.
Wenn er sich mit Emanuel im Kräutergarten traf, sprachen sie über Gott und die Welt und versicherten sich gegenseitig, wie gut es ihnen hier gefiel.
***
Tage vergingen, wurden zu Wochen. Emanuel hatte den Überblick über die Zeit verloren. Wenn er abends beim milden Schein der honiggelben Kerzen und einem Becher guten Weins in den Werken eines Euripides oder Vergil blätterte, war er der Welt selig entrückt. Seinen Zisterzienserhabit trug er schon lange nicht mehr. Manchmal fühlte er sich wie Odysseus, den Circe mit Annehmlichkeiten überhäuft und umgarnt hatte, damit er sich nicht mehr nach seiner Heimat sehnte. Ganz stimmte der Vergleich freilich nicht. Wohl sehnte Emanuel sich nicht nach Altenberg, er hätte es unter diesen Umständen noch monatelang in St. Marien ausgehalten, jedoch die anhaltende Gastfreundlichkeit der Mönche begann ihn zu verwundern und machte ihn misstrauisch. Soviel überströmende Menschlichkeit und Herzensgüte ohne Gegenleistung gab es in dieser Welt einfach nicht, auch nicht in Klöstern.
Den Abt bekam Emanuel kaum noch zu Gesicht. Er befinde sich auf Reisen, hieß es. Wenn Emanuel durchblicken ließ, er müsse nun bald aufbrechen, verwiesen die Mönche auf die baldige Rückkehr des Abtes. Als Emanuel schließlich klar wurde, dass Methode hinter den Vertröstungen steckte, er andererseits auf den guten Willen des Abtes angewiesen war, wuchs seine Besorgnis. Bald fühlte er sich nicht mehr wie ein hochgeschätzter Gast, sondern wie ein Gefangener. Dazu gehörte auch, dass er gewarnt worden war, das Kloster ohne Begleitung zu verlassen. Ein ortsunkundiger Fremder könne sich leicht verirren und ein Opfer wilder Tiere werden. Das glaubte Emanuel ihnen blind.
In der Nordmauer, die an einen schwarzen, undurchdringlichen Wald grenzte, gab es ein Tor, aber es war stets verschlossen. Man hatte ihm versichert, dort befänden sich nur verfallene Hütten von Waldarbeitern und Köhlern, die hier einstmals gesiedelt hatten. In der Klosterkirche hatte er einmal einen Mönch aus
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