Schatten eines Gottes (German Edition)
Europas die Hand. Ich sage dir, dort geht die Welt ein und aus. Und dieses Pergament …« Etienne legte eine bedeutungsvolle Pause ein. »Wenn es wirklich so gefährlich ist, wie du andeutest, dann könnte es der Funken sein. Plötzlich brennt die Flamme lichterloh und verbrennt uns alle mit.«
Octavien erbleichte. »Was brennt lichterloh? Wovon redest du?«
Etienne sah sich misstrauisch um, als hätten selbst die Gegenstände im Raum Ohren und könnten das Gehörte weitertragen. »Es geht um eine Verschwörung ungeheuren Ausmaßes. Aber ich bin nicht befugt, darüber zu sprechen.«
»Eine Verschwörung? Gegen wen?«
»Frag nicht weiter.«
»Einen Augenblick, Onkel. Werden Emanuel und ich etwa in diese Verschwörung mit hineingezogen? Damit will ich nichts zu tun haben.«
»Du hast es bereits, Neffe. Du hast das Pergament gefunden, du kennst den Inhalt. Du bist der Sohn eines Tempelritters, und die meisten von ihnen tragen diese Verschwörung mit.«
Octavien riss die Augen auf. Er wollte etwas sagen, aber er klappte den Mund wieder zu, denn er konnte sich manches zusammenreimen. Wenn das Pergament für eine Verschwörung genutzt werden sollte, dann konnte sich diese nur gegen die Kirche selbst richten. In diesem Augenblick war er froh, die heikle Schrift nicht mehr zu besitzen. Allerdings war der Text aus der Apokalypse für ihn und Emanuel nicht weniger riskant, womöglich noch gefährlicher. »Soll Innozenz gestürzt werden?«, flüsterte er.
Etienne zuckte grimmig die Achseln. »Weiß ich nicht. Wohl etwas in dieser Richtung.«
»Und wer soll den Thron Petri statt seiner besteigen?«
»Ich weiß nur, dass ich es nicht bin«, brummte Etienne. »Frage den Abt selber.«
»Er ist auf Reisen«, erwiderte Octavien verdrießlich.
»Wer ist auf Reisen?«, kam eine Stimme von der Tür. Abt Nathaniel war unbemerkt eingetreten. Sein Lächeln war unbestimmt wie immer. Freundlich, spöttisch, berechnend.
Etienne erhob sich, er und der Abt gingen aufeinander zu. Die beiden Männer packten sich bei den Handgelenken. »Schön, dass du da bist«, sagte Nathaniel. »Deine Reise war sicher beschwerlich, aber …« Er zwinkerte dem Tempelritter zu: »… der Kreuzzug nach Outremer hat dir mehr abgefordert.«
»Ganz besonders die Heimreise«, brummte Etienne. »Ich muss sagen, du hast dir hier ein kleines, aber feines Klösterchen eingerichtet.«
Octavien hielt es bei diesem Geplänkel nicht länger auf seinem Sitz. Auch er erhob sich. »Ich freue mich, dass Ihr wieder im Lande seid, Bruder Nathaniel«, mischte er sich mit etwas schärferer Stimme ein. »Emanuel und ich haben dringend mit Euch zu reden, und wir waren besorgt …«
Mit einer winzigen Handbewegung unterbrach Nathaniel Octaviens Rede. »Aber ich bin niemals fort gewesen, mein Freund. Ich war stets ganz in der Nähe, und ich bin gekommen, um Eure Besorgnis zu zerstreuen.«
Er streckte einladend die Hand aus. »Kommt. Ich will euch zeigen, wo ich mich aufgehalten habe. Die Zeit ist reif dafür.«
***
Emanuel saß im Garten auf eben jener Bank, die er und Octavien für ihre heimlichen Gespräche gewählt hatten, und las in einer römischen Schrift über einen Freidenker namens Sokrates, der wegen Gotteslästerung zum Giftbecher verurteilt worden war.
»Darf ich Euch bei Eurer Lektüre stören, Emanuel?«
Emanuel schreckte hoch. Der Abt war lautlos herangetreten, Mimik und Gestik wie stets von zuvorkommender Höflichkeit. Ohne Emanuels Antwort abzuwarten, setzte er sich neben ihn. Er sah nicht aus wie jemand, der von einer langen Reise zurückgekommen war. »Es tut mir leid, dass ich Euch so lange habe warten lassen, aber mich …«
»Sicher haben Euch dringende Geschäfte in Anspruch genommen«, unterbrach Emanuel ihn gereizt. Er wusste, dass er sehr unhöflich war, aber das war ihm egal. Er war wütend und voller Sorge.
»So war es in der Tat«, erwiderte Nathaniel, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. »Ich hoffe, Ihr habt auch ohne mich eine angenehme Zeit in dieser herrlichen Natur und mit den kostbaren Büchern verbracht.«
Emanuel klappte den Folianten verärgert zu, legte ihn neben sich auf die Bank und bemühte sich um eine gefasste Stimme. »Ihr habt uns freundlich aufgenommen, aber wir sind Euch schon lange genug zur Last gefallen. Es ist Zeit für uns zu gehen. Octavien ist der gleichen Meinung.«
Der Abt nickte bedächtig. »Ihr wollt fort, und ich weiß es schon lange. Aber es geht nicht. Noch nicht.«
Diese Antwort hatte
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