Schatten eines Gottes (German Edition)
Emanuel zu Octavien hinüber. War das nun die aufrichtige Meinung des Abtes oder ein versteckter Tadel? Diesmal tat Octavien, als habe er nichts gehört. Er tunkte ein Stück Brot in die Soße. »Sie ist von vorzüglichem Geschmack«, schwadronierte er, »Ihr müsst einen arabischen Koch haben.«
Nathaniel ließ sich willig ablenken. »Leider nein, aber Ihr habt recht, sie haben eine ausgezeichnete Küche da unten. Vielleicht erlaubt Ihr unserem Bruder Koch in St. Marien, einmal Einblick in das Kochrezept Eurer Vorfahren zu nehmen?«
»Warum nicht, wenn unsere Zeit es einmal erlaubt.«
»Ihr seid in Eile?«
»Wir sind auf dem Weg nach Rom.«
»Oh, das ist wundervoll. Die Stadt ist nicht mehr das, was sie unter Cäsar war, natürlich nicht, aber ihre Winkel und antiken Gemäuer atmen immer noch die alte Größe, jeder Stein erzählt dort eine Geschichte.«
»Die Geschichte von Heiden«, gab Emanuel spröde zur Antwort. »Es war ein heidnisches Imperium, das durch die wahre Religion Jesu Christi gestürzt wurde.«
»Gewiss«, pflichtete Nathaniel ihm ungerührt bei. »Der Heilige Stuhl und nicht zuletzt unser Heiliger Vater haben der Stadt eine neue Würde gegeben, die nicht auf Menschenmacht, sondern auf der Macht Gottes beruht. Darf man erfahren, was euch nach Rom zieht?«
»Wir reisen als Pilger«, fiel Octavien rasch ein. »Pilger, die an den heiligen Orten beten wollen um ihrer Sünden willen.«
»Ein löbliches Vorhaben. Gleichwohl, ein Pilger ist nicht unter Zeitdruck. Es spielt keine Rolle, wann ihr Rom erreicht, oder?«
»Nun …«, begann Octavien.
»Warum fragt Ihr?«, schaltete sich Emanuel rasch ein.
»Ihr würdet mir eine große Freude bereiten, wenn ihr mich in St. Marien besuchen würdet. Der kleine Abstecher wäre gewiss zu verschmerzen.«
Gleich entspannte sich Octaviens Miene. Er witterte wahrscheinlich ein neues Abenteuer. Emanuel hingegen war nicht angetan von dem Vorschlag. Er hatte von diesem Kloster gehört. Es sollte ärmlich, klein und sehr abgelegen sein. Was sollten sie dort? Er wollte aber nicht unhöflich erscheinen. »Wenn Octavien einverstanden ist«, erwiderte er zögernd.
»Natürlich. Wir nehmen die Einladung gern an.«
Nathaniel hatte Emanuels Zögern bemerkt. »Ihr werdet es nicht bereuen. Wir haben dort eine Bibliothek, die sich nicht nur mit der in Altenberg messen kann, sie ist weit umfangreicher und enthält Schriften, die die Kirche nicht gern sieht, die aber gern gelesen werden. Besonders von sehr klugen und wissbegierigen Mönchen.«
Emanuel fühlte sich ertappt und errötete. Er glaubte jedoch kein Wort. Altenbergs Ruf hinsichtlich dieser Schätze war unübertroffen. Von einer berühmten Bibliothek in St. Marien hingegen hatte noch niemand etwas gehört. Was hätte sie auch in jener Einsamkeit für einen Nutzen gehabt?
»Nun, wir …«
»Im Übrigen«, unterbrach Nathaniel ihn, »beabsichtige auch ich, demnächst nach Rom zu reisen. Ihr könntet euch mir anschließen, natürlich nur, wenn dies eure Pilgerschaft erlaubt.«
Er lächelte unmerklich. »Ich reise nämlich in einer bequemen Kutsche.«
Nun war zwar Octavien im Sattel zu Hause, aber Emanuel hatte für diese Art der Fortbewegung nicht so viel übrig. Ein wunder Hintern war noch das geringste aller Übel. Vor allen Dingen war man den Wetterunbilden ständig ausgesetzt. Die Vorstellung, auf dem Weg nach Rom hin und wieder das Pferd mit einer gepolsterten Kutschenbank zu vertauschen, gab den Ausschlag. Dafür wollte er ein paar Tage in St. Marien ausharren. Und in Eile waren sie in der Tat nicht.
Zu Gast bei Nathaniel
Dass St. Marien abgelegen war, hatte Emanuel gewusst. Dass es sich außerhalb jeder Zivilisation befand, nicht. Auf der letzten Strecke mussten sie die Kutsche in einem Dorf zurücklassen und zu Pferd weiter. Was, bei allen Teufeln, veranlasste einen Mann wie Nathaniel, ausgerechnet hier den Posten eines Abtes zu versehen? Freilich gab es Mönche wie Bruder Bernardo, die absichtlich die Askese und die Armut suchten, aber diesen Eindruck machte Nathaniel keineswegs. Auch Octavien befremdete das Verhalten, aber er machte sich darüber keine weiteren Gedanken.
»Und ob ich auch wanderte im finstern Tal, so fürchte ich kein Unglück«, murmelte Emanuel seinen Lieblingspsalm, als sie eine lange, düstere Schlucht durchquerten. Als sie das bescheidene Anwesen mit den wenigen niedrigen Häusern endlich erreichten, dankte Emanuel stumm Gott, dass er ihn aus dieser Wildnis sicher
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