Schatten eines Gottes (German Edition)
Wüstling und Weiberschreck. Agnes lachte nur darüber. So ein wohlgebauter junger Mann wollte sich austoben. Mit den Weibern hatte sie kein Mitleid. Man gab sich einem Mann eben nicht vor der Hochzeit hin. Nicht wegen der Frömmigkeit und der Sünde. Es war einfach dumm und töricht. Ein Mann nahm sich, was er kriegen konnte, das wusste doch jede. Aber was er kriegen konnte, war eben nichts wert. Sie war schlauer. Ein paar Umarmungen, ein paar Küsse, davon ging die Welt nicht unter. Und man hielt sich den Geliebten schön frisch in seiner Leidenschaft.
Um den Sohn eines Landvogts zu heiraten, musste man Köpfchen haben und Geduld. Eine so unstandesgemäße Ehe hatte viele Feinde. Deshalb hatte Kuno es immer wieder hinausgeschoben, darüber mit seinem Vater zu reden. Und deshalb war Agnes standhaft geblieben. Seine Begierden waren am Überkochen und machten ihn mürbe wie abgehangenes Wild. Er hatte ihr die Ehe versprochen, und sie hielt ihm die Hochzeitsnacht vor die Nase wie dem Hund den Gänsebraten. Doch nun, da er reif war zum Pflücken, kam er nicht.
»Er hat Pflichten«, murmelte sie sich selbst beruhigend vor sich hin, während sie zum Haus zurückkehrte. Die Mutter war immer noch in den Gästezimmern zugange. Deshalb setzte sich Agnes auf den umgestürzten Wäschezuber und tat das, was sie am liebsten tat: Sich vorstellen, wie es sein würde, eine von Eibenau zu sein. Agnes von Eibenau. Das hörte sich gut an. Ihrem Kuno würde sie das Fremdeln dann schon austreiben. Sie kannte ein paar wirksame Mittelchen, die ihn zahm machten. Die, welche den Pfaffen nachliefen, nannten es Hexerei. Agnes wusste es besser. Die Rituale beruhten auf uralten Überlieferungen aus Zeiten, in denen die Christen noch nicht existiert hatten. Weder sie noch ihr Wüstengott samt gekreuzigtem Sohn. Nur die alten Götter, die alten Lieder, die alten Helden, die alten weisen Männer und Frauen. Sie waren nicht fort, man konnte sich ihrer bedienen, sie zur Hilfe rufen, wie es die Alten getan hatten. Man musste sich nur nicht vor dem Christengott fürchten. Ein schwacher Gott, der sich böser Menschen bediente, um seine Macht durchzusetzen. Agnes verachtete ihn.
»Agnes?«
Die Mutter rief nach ihr. Rasch nahm Agnes die Holzwanne und eilte ins Haus. Arbeit gab es immer. Heute war sie froh darüber, denn sie lenkte ab von ihrer Enttäuschung.
Auch die nächsten Tage vergingen ohne ein Zeichen von Kuno. Ihre Unruhe wuchs. Sie musste endlich Gewissheit haben. In die Zauberei hatte Agnes plötzlich kein uneingeschränktes Vertrauen mehr. Und zum Gutshof wagte sie nicht zu gehen. Kuno hatte ihr immer wieder eingeschärft, sie dürfe sich dort nicht blicken lassen, weil ihre Liebe ein wundersames Geheimnis sei, das nicht vor dem Tag ihres Verlöbnisses ans Licht kommen dürfe. So umsichtig, so einfühlsam war er.
Wenn Kuno das Band an die Eberesche knüpfte, trafen sie sich bei einer verfallenen Hütte tief im Wald, in der einmal ein Einsiedler gehaust hatte, und die sie ihre ›Klause‹ nannten. Vielleicht hatte er dort etwas hinterlassen, ein Zeichen, das nur sie erkennen würde? Ja, schon morgen früh wollte sie sich auf den Weg machen. Sie fand stets eine Ausrede, um in den Wald zu entschlüpfen. Beeren pflücken, Pilze suchen, Reisig auflesen, Kastanien und Eicheln für das Schwein sammeln oder Forellen im Mühlenbach angeln. Aber diesmal wollte sie heimlich das Haus verlassen, weil sie fürchtete, die Mutter würde ihr die Ausrede nicht glauben.
Am Abend vorher vollführte sie mit Hilfe von getrocknetem Fliegenpilz, Hühnerfett und einer Stoffpuppe, die sie mit dem Gemisch einrieb und verbrannte, einen Schutzzauber, der sie vor unangenehmen Überraschungen bewahren sollte. Schaden konnte es nicht. Am nächsten Morgen erhob sie sich mit dem ersten Hahnenschrei. Sie schlüpfte in ein eng anliegendes Wams, darüber knotete sie einen weiten Rock, dessen Saum sie hochschlug und am Gürtel befestigte. So ergaben sich praktische Taschen, in denen sie ein kleines Brot vom Vortag und zwei Äpfel verstaute. Zum Schluss band sie sich ein kleines, aber scharfes Messer unter dem Rock an die Hüfte, denn allein auf ihre Zauberkunst mochte sie sich nicht verlassen.
Im Haus schlief noch alles, als sie von ihrer Dachkammer herunterschlich. Die alte Stiege knarrte zum Gotterbarmen, doch dieses Geräusch gehörte zum Haus wie das Rauschen des Windes und das Trippeln der Ratten auf dem Boden. Die letzten Gäste waren gestern erst spät nach
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