Schatten eines Gottes (German Edition)
Mitternacht gegangen. Die Mutter, die beiden Knechte und die Magd waren danach erschöpft ins Bett gefallen. Agnes hörte sie schnarchen.
Der alte Wotan vor seiner Hütte hob träge den Kopf, erkannte Agnes und legte seine Schnauze wieder auf die Pfoten. »Guter Hund«, murmelte Agnes. »Bringe mir Glück.«
Wotan schnaufte und schloss die Augen, um weiterzuschlafen.
Es schien ein schöner Tag zu werden, aber über den Wiesen hing der Nebel noch dicht wie Watte, und der Wald wirkte im Morgengrauen wie eine dunkle Wand. Beinahe hätte Agnes in ihrer Eile es versäumt, nach der Eberesche zu schauen. Sie glaubte ihren Augen nicht zu trauen. Da flatterte ein blaues Band von einem Zweig. Agnes Herz tat einen Luftsprung. »Püppchen fein, Püppchen fein, bringst mir den Geliebten mein«, murmelte sie, während sie schneller ausschritt und gleich darauf in den dunklen Waldpfad einbog. Ihre sehnsüchtigen Gedanken eilten ihr voran, weilten bereits bei Kuno.
Ganze Haine von violett leuchtendem Fingerhut säumten die kleine Lichtung, in deren Mitte eine große Buche stand. Ihre Krone wölbte sich über dem eingestürzten Dach der Klause, als wolle sie alles, was darin Zuflucht suchte, beschützen. Unter der Buche breitete sich ein Grasteppich, dort hatten Agnes und Kuno so manches Mal gesessen, Dummes und Gescheites miteinander geredet, und den anderen umfasst, gefühlt, geküsst. Und dort wartete er auch. Auf ihrem Platz. Agnes erblickte Kuno schon von Weitem. Er trug ein dunkelblaues Wams mit Silberstickerei über einem grünen kurzärmeligen Wollrock, und auf seinem blonden Haar leuchtete die Morgensonne.
Obwohl Agnes ihm am liebsten entgegen geflogen wäre, schlenderte sie bewusst gleichgültig auf ihn zu. Nur keinen Mann merken lassen, dass man ihn nötig hatte, dass man sich nach ihm verzehrte. Jeder Schritt, der sie ihm näher brachte, fühlte sich an wie auf Schwanendaunen. Doch sie würde ihm ein Gesicht schneiden, als sei sie durch Brennnesseln gelaufen, weil er sie so lange hatte warten lassen. Strafe musste sein, sonst wurden die Männer übermütig. Als Tochter einer Schankwirtin wusste sie das.
Kuno lief ihr entgegen, sein bezauberndes Lächeln strahlte ihr entgegen. Agnes kostete es große Überwindung, ihm nicht gleich an die Brust zu sinken. Als seine starken Arme sie an sich zogen, machte sie sich steif. Bevor sie ihm etwas gestattete, musste sie ihn zur Rede stellen.
»Meine Agnes!«, keuchte er. »Ich habe dich so vermisst.«
Gierig suchten seine Lippen ihren Mund, doch sie wendete sich ab. Sacht schob sie den Stürmischen von sich. »Ich dich auch«, erwiderte sie schnippisch. »Länger als zwei Wochen hast du mich warten lassen. Offenbar hast du deine Jagdkumpane meiner Gesellschaft vorgezogen.«
Kuno ließ einen Seufzer hören. Agnes wusste, was er bedeutete. Kuno wollte sich nicht lange erklären, wollte sein Fernbleiben mit heißen Küssen aus der Welt schaffen, aber das litt Agnes nicht. »Halt! Zuerst wird gebeichtet!«
Kuno ließ nicht von ihr ab, das machte sie ärgerlich. Wenn sie nicht angefasst werden wollte, hatte er das zu respektieren. So war es bisher auch gewesen. Als sie ihm einen leichten Stoß vor die Brust versetzte, ließ Kuno sie los, aber so rüde, dass sie stolperte. Sein Lächeln war verschwunden, und in seinen Augen loderte so etwas wie Zorn.
Agnes starrte ihn sprachlos an. Ihre entsetzte Miene brachte ihn zur Besinnung. Er streckte die Arme nach ihr aus. »Agnes! Verzeih mir. Es tut mir leid. Komm! Es ist die Liebe zu dir, die mich ungeduldig macht.«
In seinen Augen schimmerte Zärtlichkeit. »Ich bin auf der Jagd in einen eiskalten Bach gestürzt und habe zwei Wochen mit hohem Fieber im Bett gelegen. Glaubst du wirklich, etwas anderes könnte mich davon abhalten, zu dir zu eilen?«
Agnes sah ihn unschlüssig an. »Das hättest du mir auch gleich sagen können. Deshalb brauchst du nicht grob zu werden. Behandele mich nie wieder so, hörst du?«
»Nie wieder, ich schwöre! Die Hand soll mir abfallen, wenn ich dir ein Leid antue. Aber nun komm! Lass mich nicht länger warten!«
Agnes stand noch zwei Sekunden still, dann lachte sie silbern und flog ihm an die Brust. »Du Unhold du! Du Barbar! Du blonder Teufel!« Sie ließ seine durstigen Küsse zu und erwiderte sie. »Das nächste Mal musst du aber unbedingt einen Boten schicken. Er soll eine Nachricht unter den Wurzeln verstecken. Sonst sterbe ich vor Sorge.«
Kuno packte sie bei der Hand. »Ich verspreche es.
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