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Schatten eines Gottes (German Edition)

Schatten eines Gottes (German Edition)

Titel: Schatten eines Gottes (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Ahrens
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schaute ihn nicht an, als er ihn fragte: »Was hast du vor mit deinem Leben?«
    Hubert bohrte seinen bloßen Zeh in den Sand. Der Mönch roch nach Kerzenwachs und Erde, es war ein guter Geruch. »Lesen lernen. Aber das geht nicht, weil ich arm bin.«
    »Wohl wahr. Aber angenommen, du könntest lesen, was würdest du dann tun?«
    Hubert errötete. »Zuerst einmal alle Geschichten lesen, die aufgeschrieben wurden. Solche, wie sie uns Bruder Michael bei der Predigt vorgelesen hat.«
    »Geschichten lesen würdest du, so, so. Und nichts weiter?«
    Hubert überlegte. »Ich könnte sie dann anderen vorlesen, den Menschen die nicht lesen können. Und dann …«, fuhr Hubert eifrig fort, »würde ich schreiben lernen. Dann könnte ich alles, was ich denke und sehe, aufschreiben. Damit ich nichts vergesse. Und wenn ich ein alter Mann bin, dann kann ich es mir wieder anschauen und mich erinnern.«
    »Hm, ich habe schon schlechtere Pläne gehört. Aber wenn du mehr weißt als andere, kannst du reich werden und über die Ungebildeten herrschen. Du könntest ein mächtiger Mann werden.«
    »So wie ein Graf?«
    Der alte Mönch nickte. »So ungefähr.«
    Hubert musste eine Weile nachdenken. Natürlich war das nur ein Spiel. Er selbst würde niemals reich und mächtig werden.
    »Hier in Altenberg haben wir eine große Bibliothek. Du würdest staunen, wenn du sie siehst.«
    »Bestimmt«, nickte Hubert traurig. »Aber ich darf ja nicht hinein. Karlmann hat das gesagt.«
    »Nun, dann wird es wohl stimmen. Aber vielleicht kann ich ein gutes Wort bei ihm einlegen. Auch wegen des Lesens.« Der Mönch zwinkerte Hubert zu.
    »Karlmann hat das aber nicht zu entscheiden.«
    »Nein, da hast du recht. Ich werde mit dem Abt sprechen müssen.«
    »Ist der nicht furchtbar streng?«
    Der Alte nickte. »In der Tat, das ist er. Aber ich bin ja alt. Mir wird er schon nichts tun.«
    Er erhob sich schwerfällig. »So, es ist Zeit für mich. Ich habe vor dem Abendessen noch etwas zu tun. Mach dir keine Sorgen, und vor allem gehe dem Bruder Prior aus dem Weg. Er ist – wie soll ich sagen – eben schon sehr alt. Gott wird ihn bald abberufen.«
    Der Alte war niemand anderes als Abt Bruno selbst gewesen. Ab jenem Tag hatte Hubert am Unterricht der adligen Zöglinge teilnehmen dürfen. Er hatte sich rasch zum Klassenbesten entwickelt und bei seiner Aufnahme als Novize den Namen Emanuel erhalten.
    Zufrieden seufzend drehte sich Emanuel auf die Seite. Er hatte viel erreicht, doch er befand sich erst am Anfang. Und nun wollte er endlich schlafen.

Sinans Jugend im Kloster St. Marien
    Ein ummauerter Garten mit Bäumen, Blumen und Vögeln darin und ein unterirdischer Raum mit gewölbter Decke, der an eine Höhle erinnerte. Das war Sinans ganzer Lebensraum. Er hatte diese Umgebung mit seinen rastlosen Beinchen und wachen Augen im Spiel erkundet. Vertraut waren ihm der Tempel des Mithras mit dem Felsenbild der Stiertötung, die zehntausend Augen des Gottes, die ihn durch die Decke der Höhle beobachteten, die Gefäße mit heiligem Öl und der steinerne Altar mit den sieben Stufen, die den Aufstieg zum Licht symbolisierten. In einem Kreis von Sonnenlicht, das durch das größte Auge fiel, saß er gern, spielte mit hölzernen Figuren und dachte sich Geschichten zu ihnen aus, während er geborgen im Schoße der Erdmutter weilte. Diese Welt hielt der kleine Sinan für das gesamte Universum.
    Nach Vollendung seines vierten Lebensjahres wurde Sinan aus dieser Geborgenheit gerissen. Er wohnte nun in der verborgenen Stadt und schlief in einem gemeinschaftlichen Schlafsaal zusammen mit anderen Jungen, von denen die meisten älter waren als er. Tagsüber musste er mit ihnen in einem großen Raum sitzen, wo Männer in langen Gewändern auf und ab schritten und lange Vorträge hielten. Sinan musste lernen, still zu sitzen, sich auf eine Sache zu konzentrieren und zu gehorchen. Schwatzhaftigkeit, Unaufmerksamkeit oder Zuspätkommen bestraften die Männer mit Stockschlägen. Sinan weinte viel, aber Weinen war nutzlos.
    Er war allein. Mit den älteren Jungen verband ihn nichts. Eine Mutter, die ihn in den Arm nahm, ihn bei Schmerzen und Kummer tröstete, ihn in den Schlaf sang oder ihm Geschichten vorlas, hatte er nie kennengelernt. An seinen kleinen Bruder – man hatte ihm gesagt, er sei tot – konnte er sich ohnehin nicht mehr erinnern.
    Sinan zog sich immer mehr in eine innere Welt zurück, die er selbst erschaffen hatte. In dieser Welt war das Gewölbe des Mithräums

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