Schatten eines Gottes (German Edition)
das Beschützende, das Warme. Mithras selbst, der Stier und all die anderen Tiere und Figuren auf dem Altarbild sprachen zu ihm, waren seine Freunde. Er hatte ihnen Namen gegeben und stellte sich vor, wie sie aus dem Bild heraustraten und um ihn waren. Was die Lehrer sagten, drang nicht bis zu ihm vor. Das war die Phase, die er als Kleinkind erlebte, geprägt von seelischer Einsamkeit, gemildert nur durch die Täuschungen, die seine Fantasie hervorbrachte.
Als er älter wurde, änderte sich sein Verhalten. Einige von den Mitschülern verließen die Klasse, es kamen neue hinzu, die in seinem Alter waren. Lauter Söhne ausgewählter Familien, die hier eine Ausbildung fern vom Christentum erhielten, denn viele Familien, die sich zur geistigen Elite zählten, konnten sich mit der von oben verordneten Religion nicht anfreunden. Nicht alle bekannten sich zu Mithras, aber sie wussten, dass ihren Söhnen hier eine umfassende und ausgezeichnete Bildung zuteilwurde, die auch das heidnische Wissen mit einschloss. Der alte Glaube fürchtete sich nicht vor neuen Erkenntnissen, er errichtete keine bigotten Mauern gegen Wissensdurst, Neugier und selbstständiges Denken. Deshalb konnten die Schüler hier aus einer Fülle von Material schöpfen, die den meisten Christen verwehrt war.
Zuerst hatte Sinan geglaubt, die Höhle habe ihn zur Welt gebracht wie Mithras, den Felsgeborenen, der aus dem Bauch einer Höhle hervorgetreten war, um die Welt zu retten. Inzwischen wusste er, dass er einen Vater und eine Mutter besessen hatte wie alle anderen. Doch das waren Schatten, die ihm nichts bedeuteten. Was war das, eine Mutter? Frauen kannte er nur aus den Schriften, denn Frauen waren beim Mithraskult nicht zugelassen.
Bald fiel Sinan durch eine rasche Auffassungsgabe auf, das Lernen fiel ihm leichter als den anderen, und oftmals wurde er vor den anderen ausgezeichnet. Was er als Vierjähriger versäumt hatte, schien er jetzt umso begieriger nachholen zu wollen. Mit zehn Jahren konnte Sinan lesen und schreiben und beherrschte drei Sprachen. Er erwarb den Ersten von sieben Weihegraden, den des klugen Raben.
Manchmal durfte er nun den Priestern des Mithras bei den heiligen Zeremonien im Tempel zur Hand gehen, die Gefäße mit Weihrauch oder mit dem heiligen Öl bereithalten und die überlieferten Gesänge auf dem Tambur, einer uralten Langhalslaute, begleiten, denn er entwickelte ein besonderes Talent für Spiel und Gesang. Die Zeremonien übten einen merkwürdigen Reiz auf ihn aus, den er sich nicht erklären konnte. Manchmal versetzten sie ihn in Trance, und er sah Bilder, schön und schrecklich zugleich. Aber wenn er sie festhalten wollte, entschwanden sie.
Das dem Altar gegenüberliegende Felsenbild, das Mithras als Stiertöter zeigte, übte immer noch eine unwiderstehliche Kraft auf ihn aus. Er war glücklich, wieder mit ihm vereint zu sein. Längst betrachtete er die Figuren darauf nicht mehr als Spielgefährten. Er kannte ihre Bedeutungen. Eines Tages würde sich der Lichtfunke seiner Seele mit dem sonnenähnlichen Licht des Gottes vereinen. Dafür musste er sieben Weihegrade durchlaufen, und jeder verlieh mehr Weisheit, mehr Stärke, mehr Macht. Die Jünglingsgestalt des Mithras verkörperte für Sinan den heldenhaften Lichtgott, der schon durch sein Äußeres seine Überlegenheit gegenüber dem mageren Christus am Kreuz bewies. Mithras war kein Jammerlappen, der sich ohne Gegenwehr gefangen nehmen, geißeln und kreuzigen ließ und am Ende noch seinen Peinigern verzieh. Sinan verachtete diesen schwachen Gott.
Nach und nach wurde er mit den sieben freien Künsten bekannt gemacht, die auch in christlichen Klöstern gelehrt wurden: Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie. Ein Lehrer unterrichtete ihn dabei in der Dichtkunst und der Kunst des Musizierens. Bald blies Sinan meisterlich die Flöte und schlug die Laute. Außerdem wurde er unterwiesen im Reiten, Fechten und Bogenschießen. Nach weiteren zwei Jahren erhielt er den Weihegrad des Morgensterns. Er war nun zwölf Jahre alt.
***
Wintersonnenwende! Seit vier Wochen, die sie Zeit der Erwartung nannten, bereiteten sich die Priester auf das Lichtfest vor, an dem die Tage wieder länger wurden. An jedem siebten Tag, dem Sonnentag, stellten sie weitere Lichter im Tempel auf, bis er am Tage von Mithras’ Geburt in hellem Licht erstrahlte.
Es war auch ein besonderer Tag für Sinan, denn zu diesem Fest sollte er in Gemeinschaft mit anderen
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