Schatten eines Gottes (German Edition)
beieinander, der Franziskaner und der Knabe, wie zwei Menschen, die sich schon lange kennen und sich auch ohne Worte verstehen. Langsam senkte sich die Nacht über das weite Land. Bäume und Sträucher verwandelten sich in schwarze Wächter inmitten eines milchigen Sees. Ein düsterer Streifen Wald begrenzte den Horizont. Die Vögel waren verstummt, die Luft war kühl geworden, aber Nicholas fror nicht. Eine innere Flamme schien ihn zu wärmen, etwas Bedeutsames schien in dieser Nacht auf ihn zu warten, weit größer als ein gewöhnliches Abenteuer.
Der Mönch ruhte in sich wie ein Kind im Mutterschoß, vielleicht betete er. Nicholas blinzelte, um wenigstens die Umrisse seiner Umgebung zu erkennen. Er wartete und wusste nicht worauf, und er wagte auch nicht zu fragen. Die Dunkelheit war nun fast vollkommen.
Und dann sah er das Licht. Über dem Wald erhob es sich wie ein dünner Schleier. Was war das für ein Licht? Ein fernes Gewitter? Es breitete sich aus, und nun sah es aus, als ginge von dem Wald ein Leuchten aus, so als hätten sich dort Abertausende von Glühwürmchen versammelt. Wie gebannt starrte Nicholas auf das himmlische Schauspiel. Das Licht wogte hin und her, und dann schien es sich zu verdichten.
Der Mönch streckte die Hand aus. »Was siehst du?«
Nicholas zuckte zusammen, als er die kraftvolle Stimme neben sich vernahm. »Lichter«, flüsterte er.
»Welche Form haben sie?«
»Sie sehen aus wie grüne wehende Vorhänge. Was ist das?«
Der Mönch legte ihm eine Hand auf die Schulter. Der Druck war sanft, doch gleichzeitig hatte Nicholas das Gefühl, ihm sei plötzlich eine ungeheure Last auferlegt worden.
»Sieh noch einmal genau hin. Sie verändern sich. Erkennst du es? Was haben sie jetzt für eine Form?«
Nicholas starrte angestrengt auf die Lichtspiele, die über den schwarzen Baumwipfeln flackerten, während der Druck auf seiner Schulter sich verstärkte. Veränderten sie sich wirklich? Vor seinen Augen begann es zu flimmern. »Die Lichtwolke – sie tanzt, sie schwebt, und jetzt …«
Nicholas blinzelte erneut und verstummte vor Konzentration. Jetzt glich die Lichterscheinung einem Stab, weitete sich und schwoll an zu einem Mast. An seiner Spitze liefen die Lichter auseinander wie vergossene Milch und strahlten wie ein Szepter. Und dann –
Nicholas glaubte seinen Augen nicht zu trauen. »Oh Jesus!«, stöhnte er und bedeckte seine Augen. »Es ist – es ist ein Kreuz. Das Zeichen ist ein Kreuz.«
»Du siehst ein Kreuz?«
»Ja – äh – ja, ich sehe es, ich …« Nicholas nahm die Hände von den Augen. Eigentlich sah er nun gar keine Umrisse mehr, nur noch einen milchigen Nebel, der langsam verblasste, aber dahinter vermeinte er, ein funkelndes Kreuz zu erblicken. Auch nachdem die Lichter gänzlich verschwunden waren, schien es noch unverrückbar am Himmel zu stehen. Mit glänzenden Augen starrte Nicholas in den schwarzen Himmel.
Ich sehe es, ich kann es wirklich sehen,
dachte er.
Das Zeichen des Erlösers! Jedoch – was, wenn das Zeichen nicht das Heil, sondern den Untergang verkündet?
Der Mönch umfasste behutsam seine beiden Hände. »Nicholas? Was ängstigt dich?« Er schlug ihm leicht auf die Wange.
Nicholas spürte die Angst von sich abfallen. Die Wärme, die von den Händen des Mönches ausging, erfüllte ihn mit Zuversicht. Dieser Mann war dazu bestimmt, die bösen Mächte zu besiegen.
»Wer seid Ihr?«, flüsterte er, nachdem er seine Sprache wieder gefunden hatte, aber in der Tiefe seiner Seele wusste er es bereits seit jener Begegnung auf dem Heumarkt.
»Was siehst du denn in mir?«
Überwältigt rannen Nicholas Tränen herab. »Seid Ihr – bist du unser Herr Jesus?«, flüsterte Nicholas und erschrak gleichzeitig über seine Kühnheit.
»Ich habe das nicht gesagt. Du hast es gesagt.«
Der Mönch erhob sich. »Wir sollten jetzt aufbrechen.«
Nicholas erhob sich mit weichen Knien. »Ihr wusstet, dass die Lichter kommen werden. Haben andere sie auch gesehen?«
Statt einer Antwort sah der Mönch zum Himmel hinauf. Einige Sterne waren jetzt sichtbar, und über den Baumwipfeln schwebte die helle Sichel des Mondes. Der Mönch hob seine ausgestreckten Hände ins Licht, die weiten Ärmel seiner Kutte glitten hinab bis zu den Ellenbogen. »Viele haben sie gesehen, doch wenige können sie deuten. Wie der Fisch in einem Netz sind sie im Aberglauben gefangen.«
Nicholas glaubte, der Mönch habe die Arme im Gebet erhoben, als sein verblüffter Blick auf die nach
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