Schatten über den Weiden: Roman (German Edition)
präzise wie in einem schriftlichen Bericht legte Rossi Tipton die Fakten dar, von Lipskys Rauswurf bis hin zu seinem Tod. »Wir haben es hier mit einem Mann zu tun, dem leicht die Sicherung durchbrannte, der zu Gewalttätigkeit neigte und der etwas von Pferden verstand. Kein Typ, der sich leicht Freunde schaffte. Bei uns kein Unbekannter. Überfall, Körperverletzung, unehrenhafte Entlassung aus der Armee.«
Das Bild eines Mannes, der sich eher aus dem Staub machen würde, statt sich einen Giftcocktail zu mixen.« Tipton hatte eine Weile daran zu knacken. »Aber er hätte sich das Zeug beschaffen können.«
»Er hätte das gekonnt wie auch jeder andere. Er hatte es – vielleicht aus persönlichen Gründen – auf Slaters Pferd abgesehen. Seine Entlassung hat ihm gar nicht geschmeckt, also sinnt er auf Rache. Der alte Mann erwischt ihn, er gerät in Panik. Jetzt hat er einen Menschen auf dem Gewissen. Warum haut er nicht ab, Captain? Warum verkriecht er sich in einem Motel, das nur eine Stunde von Charlestown entfernt liegt?«
»Weil er auf jemanden wartet. Jemanden, der ihm weitere Anweisungen erteilt.«
»Und dieser Jemand hat ihm einen Höllendrink gemixt. Auf der Ginflasche haben wir keine Fingerabdrücke gefunden. Sie ist abgewischt worden.«
Dieser besondere Aspekt entlockte Tipton ein Lächeln. Kleine Fehler, dachte er. Er hatte immer auf kleine Fehler der Verbrecher gewartet, so wie seine alte Katze darauf wartete, daß einer der Spatzen einen Fehler machte.
»Also hast du einen ungeklärten Mordfall am Hals. Hast du diesen Slater mal unter die Lupe genommen?«
»Hab’ ihn mir vorgeknöpft. Interessanter Mann. Über den gehen viele Gerüchte um. Hat schon mal gesessen.«
»Weswegen?«
»Illegales Glücksspiel. Ein paar Monate früher, und er
wäre noch unter das Jugendstrafgesetz gefallen.« Zerstreut tippte Rossi mit den Fingern gegen die Stuhllehne. »Seitdem ist er nicht mehr straffällig geworden. Hauptsächlich auf der Straße aufgewachsen. Die Mutter starb, als er noch ein Kind war. Der Vater hat sich aus Schwierigkeiten immer wieder herausgewunden. Paarmal verhaftet worden – Betrug, Fälschung, ungedeckte Schecks. Ein Kleinganove und Spieler. Hat vor ein paar Jahren in Taos eine Nutte vermöbelt. Aalglatt. Sein Sohn ist ihm durchgegangen, als er vierzehn war, hat Mist gebaut und seine Strafe dafür abgesessen, seitdem ist er sauber. Ich kann nicht beschwören, daß er Lipsky nicht erledigt hat, aber er wäre anders vorgegangen. Direkter.«
»Wen hättest du denn sonst noch anzubieten?«
»Keinen Topverdächtigen. Hast du das Derby im Fernsehen gesehen?«
»Roscoe, es gibt nur eine echte Sportart, und das ist Baseball.« Vielsagend tippte er an seine Kappe. »Ich hab’ da was munkeln gehört, daß sich ein Pferd das Bein gebrochen haben soll.«
»Das Pferd wurde gedopt, und zwar mit einer Überdosis, und ist eingegangen. Slaters Gaul hat das Rennen gewonnen.«
»Soso.« Tipton leerte seine Bierdose. »Worauf willst du hinaus, Roscoe?«
»Ich bin mir nicht sicher. Der Kreis ist groß, und das Ganze geht dreiundzwanzig Jahre zurück. Naomi Chadwick, Captain. Was kannst du mir über sie sagen?«
»Seltsam.« Tipton zertrat die leere Dose. »Den Namen höre ich heute schon zum zweiten Mal. Die Tochter hat mich heute morgen angerufen.« Er schaute auf seine Uhr. »Sie müßte gleich hier sein.«
»Kelsey Byden kommt hierher?«
»Sie will mit mir über ihre Mutter reden.« Tipton lehnte sich im Schaukelstuhl zurück und genoß das quietschende Geräusch, das er erzeugte. »Auf einmal ist alles wieder gegenwärtig.«
»Du hättest auf der Farm bleiben sollen«, brummte Kelsey. »Bis zum Belmont ist es nur noch eine Woche.«
»Jamie kommt auch ohne mich klar.« Lächelnd nahm Gabe die nächste Kurve. »Das ist ihm sogar lieber.«
»Ich mache mir Vorwürfe, weil ich dich gerade jetzt von deiner Arbeit abhalte. Ich wäre auch allein zurechtgekommen.«
»Kelsey.« Geduldig griff Gabe nach ihrer Hand und küßte sie. »Sei still.«
»Kann ich nicht, bin viel zu nervös. Dies ist der Mann, der meine Mutter festgenommen, verhört und ins Gefängnis gebracht hat. Und ich will ihn bitten, mir dabei zu helfen, ihm einen Fehler nachzuweisen. Naomi habe ich auch schon wieder belogen. Ich habe ihr gesagt, wir fahren spazieren.«
»Tun wir doch auch.«
»Darum geht es doch nicht. Ich täusche sie, und Moses, und alle anderen. Und weshalb? Um diesen idiotischen Drang zu befriedigen, mich
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