Schatten über den Weiden: Roman (German Edition)
gerufen hast, dann mußt du einen Grund dafür gehabt haben. Einen triftigen Grund. Ich will ihn wissen.«
»Du warst der Grund«, antwortete Philip schlicht. »Ich wollte dich bei mir haben. Sicher teilweise aus egoistischen Gründen, aber du warst der beste Teil von uns beiden. Ich war überzeugt, daß du bei mir besser aufgehoben wärst als bei deiner Mutter. Du solltest nicht in dieser. . . unsteten Atmosphäre aufwachsen.«
Hatte er sich damals geirrt? fragte sich Philip. Hatte er sich geirrt? Wie oft hatte er sich diese Frage schon gestellt, sogar dann noch, als ihm die Ereignisse recht gegeben hatten.
»Deine Großmutter und ich haben die Angelegenheit ausführlich besprochen«, fuhr Philip fort. »Sie war entschieden dagegen, daß Naomi das alleinige Sorgerecht bekommen sollte, und am Ende stimmte ich ihr zu. Die Entscheidung fiel mir nicht leicht, aber ich war überzeugt, richtig zu handeln.«
Er blickte zu ihr hoch, und wie er die Frau ansah, erinnerte er sich an das Kind. »Ich wollte dich nicht verlieren, Kelsey, und ich wollte kein Wochenendvater werden, dessen Rolle bald Naomis nächster Mann übernehmen würde. Und mit dem Lebenswandel, den sie in den Monaten nach der Trennung führte, legte sie es offensichtlich darauf an, mich zu provozieren. Ihre Anwälte hatten sie sicherlich beschworen, sich diskret zu verhalten, also tat sie das genaue Gegenteil, buhlte um die Gunst der Presse, gab Anlaß zu Klatsch. Ich war gar nicht begeistert von der Idee mit dem Privatdetektiv, aber ich brauchte handfeste Beweise. Also überließ ich das den Anwälten.«
»Du hast Rooney nicht persönlich engagiert?«
»Nein, ich – woher kennst du seinen Namen?«
»Ich komme gerade aus seinem Büro.«
»Kelsey!« Philip packte seine Tochter am Arm. »Was bezweckst du damit? Was versprichst du dir davon?«
»Antworten. Eine ganz spezielle Antwort.« Ihre Finger schlossen sich um die seinen. »Ich werde dich ganz direkt fragen: Glaubst du, daß Naomi Alec Bradley ermordet hat?«
»Es gibt keinen Zweifel, daß . . .«
»Daß sie ihn getötet hat«, sagte Kelsey schroff. »Aber Mord? Hat sie ihn ermordet? War die Frau, die du kanntest, die Frau, die du geliebt hast, eines Mordes fähig?«
Er zögerte, spürte, wie seine Tochter seine Hand umklammerte. »Ich weiß es nicht«, erwiderte er schließlich. »Ich wünschte von ganzem Herzen, ich könnte es dir sagen.«
Als letztes an diesem Tag stattete Kelsey den Anwälten ihrer Mutter einen Besuch ab. Auch hier erreichte sie wenig, denn die Anwälte beriefen sich auf ihre Schweigepflicht. Sie verließ das vornehme Büro unzufrieden, aber entschlossen.
Es gab immer einen Weg, sagte sie sich. Für jedes Problem fand sich letztendlich eine Lösung, man benötigte bloß die Fakten, die Formel und die Geduld, beides zu kombinieren. Schade, daß ihre Begabungen mehr bei Philosophie und Kunst lagen als bei Mathematik und den Naturwissenschaften.
Sie war entmutigt, was sie auf ihre Erschöpfung zurückführte. Sie mußte sich eingestehen, daß sie zu müde war, um Naomi Märchen über den Verlauf ihres Nachmittags zu erzählen. Und so fuhr sie statt zu ihrer Mutter nach Longshot.
Wenn Gabe nicht zu Hause war, würde sie nach Three Willows zurückfahren und sich mit einer Ausrede – Kopfschmerzen vielleicht – in ihr Zimmer zurückziehen.
Noch eine Notlüge, Kelsey? fragte sie sich ungehalten. Wenn sie noch lange so weitermachte, würde sie nicht nur zu einer ausgezeichneten Lügnerin werden, sondern es
auch bald für selbstverständlich betrachten, die Unwahrheit zu sagen.
Sie ging auf das Haus zu, aber anstatt zu klopfen setzte sie sich einfach auf die Treppe und schaute in die milchiger werdende Sonne.
Ein oder zwei Stunden noch, dann würde sie untergehen, sinnierte Kelsey. Ob der Vogel, der vorm Fenster sein Lied anstimmte, wohl eine Gefährtin hatte? Wenn ja, würde ihre Antwort bei Anbruch der Dämmerung ertönen – weich, süß und lockend.
Die Pflanzen hier gediehen prächtig; ein Blütenmeer, das die Luft mit Duft erfüllte. Leuchtendgelbe Primeln, kecke Stiefmütterchen, dahinter ein Gitter, das bald von Wickenranken überwuchert sein würde. Die Fliederbüsche standen in voller Blüte und verströmten einen schweren, süßen Wohlgeruch. Überall auf dem Rasen lagen die kleinen lila Blüten verstreut.
An einem so beschaulichen, stillen Plätzchen lebte dieser Mann voller Energie und Leidenschaft.
Kelsey hörte, wie die Tür hinter ihr geöffnet
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