Schatten über den Weiden: Roman (German Edition)
Schnitt, den sie weniger aus modischen als aus praktischen Gründen trug. »Es wird mir nie langweilig, ihnen zuzusehen, jeden Frühling, Jahr für Jahr. In diesem sich ewig wiederholenden Ablauf liegt etwas Beruhigendes.«
»Sie sind wunderschön, so unbeschwert. Ich kann mir kaum vorstellen, daß sie einmal über eine Rennbahn jagen werden.«
»Diese athletische Rasse ist auf Geschwindigkeit gezüchtet, was du morgen mit eigenen Augen sehen wirst.« Naomi warf ihr Haar zurück und zog dann eine weiche
Kappe aus der Jackentasche und setzte sie auf ihre widerspenstige Mähne. »Siehst du den Kleinen dort, der gerade trinkt? Er ist fünf Tage alt.«
»Fünf?« Überrascht drehte Kelsey sich um und nahm Mutter und Kind genauer unter die Lupe. Das kräftige, gutgebaute Fohlen schien sich auf der Weide schon ausgesprochen heimisch zu fühlen. »Kaum zu glauben«.
»Sie wachsen sehr schnell. Mit drei Jahren sind sie auf dem Höhepunkt ihrer Leistungsfähigkeit. Was hier, oder besser gesagt, im Deckschuppen beginnt, endet einmal in der Startbox. Dann ist dieser kleine Kerl zum Beispiel ungefähr zwölfhundert Pfund schwer und dreht mit einem Jockey auf dem Rücken seine Runden. Ein herrlicher Anblick.«
»Aber der Weg dorthin ist nicht einfach«, meinte Kelsey nachdenklich. »Es ist sicher nicht leicht, aus so einem zierlichen Geschöpf ein konkurrenzfähiges Rennpferd zu machen.« .
»Nein.« Naomi lächelte. Ihre Tochter begann bereits zu begreifen. Das mußte ihr wohl im Blut liegen. »Es ist mit viel Arbeit verbunden und endet häufig mit einer Enttäuschung. Aber es ist die Mühe wert. Jedesmal.« Sie rückte ihre Kappe zurecht, so daß der Schirm ihr Gesicht beschattete. »Tut mir leid, daß ich dich so lange warten lassen mußte, aber der Hufschmied redet ohne Punkt und Komma. Er hat schon für meinen Vater gearbeitet und beschlägt die Pferde am liebsten hier.«
»Schon gut. Ich erwarte ja gar nicht, daß du mir dauernd Gesellschaft leistest.«
»Was erwartest du denn?«
»Nichts. Noch nichts.«
Naomi musterte die säugende Stute und wünschte sich, so leicht auch ein Band zu ihrem Kind zu knüpfen. »Bist du wegen heute morgen noch böse?«
»Böse ist nicht das richtige Wort.« Kelsey riß sich vom Anblick der Pferde los und sah ihre Mutter ernst an. »Erstaunt trifft die Sache besser. Alle standen bloß herum, und keiner unternahm etwas.«
»Außer dir.« Grinsend schüttelte Naomi den Kopf. »Ich dachte, du würdest diese Schnapsdrossel einfach aufspießen. Ich beneide dich, Kelsey, weil du zu impulsiven Handlungen fähig bist und keine Angst hast. Oder du hast ein ausgeprägtes Ehrgefühl. Ich war wie erstarrt. Ich fürchte, ich habe zuviel Angst und längst nicht mehr genug Ehrgefühl. Vor langer Zeit hätte ich auch so gehandelt.«
Sie schlang die Arme um den Körper und sah ihrer Tochter voll ins Gesicht. »Du wunderst dich, warum niemand die Polizei gerufen hat. Gabe hat das mir zuliebe nicht getan. Vielleicht – aber da bin ich mir nicht sicher – hätte er auf seinem Grund und Boden anders gehandelt. Aber hier . . . er weiß, daß ich es nur äußerst ungern noch einmal mit der Polizei zu tun bekommen möchte. Am liebsten nie wieder.«
»Das geht mich nichts an.«
Naomi schloß die Augen. Es war an der Zeit, daß sie beide sich an eines gewöhnten: Alles, was sie anging, ging nun auch Kelsey etwas an. »Als sie kamen, um mich festzunehmen, da hatte ich noch keine Angst. Ich war mir so sicher, daß sie am Ende wie Narren dastehen würden – und ich als die große Heldin. Ich hatte auch keine Angst, als ich im Verhörzimmer saß, einem tristen grauen Raum mit harten Stühlen, auf denen man nicht richtig sitzen konnte. So wollen sie dich weichklopfen.« Sie schlug die Augen wieder auf. »Sie kriegten mich nicht klein. Am Anfang noch nicht, denn ich war schließlich eine Chadwick. Aber dann kriecht die Angst langsam in dir hoch, immer höher. Du kannst sie unterdrücken, aber nicht ausschalten. Und noch ehe ich diesen schrecklichen grauen Raum verließ, hatte ich auch Angst.«
Naomi atmete tief durch und wurde sich bewußt, daß all das hinter ihr lag – bis auf die Erinnerungen. »Ich hatte während der gesamten Verhandlung Angst, aber ich wollte es nicht zeigen, denn die Vorstellung, jeder könne mir meine Angst ansehen, war mir zuwider. Und dann mußt du aufstehen, damit der Richter das Urteil verkünden
kann. Deine Verurteilung. In diesem Moment kannst du die Angst nicht mehr
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