Schatten über den Weiden: Roman (German Edition)
»Zweimal. Ich habe ihn verwarnt und ihm gesagt, daß er fliegt, wenn das noch mal vorkommt. Er ist ein guter Mann. Zugegeben, er guckt gern ins Glas, aber er arbeitet seit einem Jahrzehnt auf dieser Farm.« Seufzend blickte er auf den Verband an Gabes Arm. »Ich schwöre beim Leben meiner Mutter, ich hätte nie gedacht, daß er auf dich losgeht.«
»Trinker sind unzuverlässig, Jamie. Du weißt, wie ich darüber denke.«
»Allerdings.« Jamison faltete die Hände über dem Bauch. Anstatt hier seinen Brötchengeber zu besänftigen, sollte er eigentlich schon längst auf der Rennbahn sein. »Und vielleicht verstehe ich besser, als du ahnst, warum du für diese spezielle Schwäche kein Verständnis aufbringst. Aber für die Jungs bin ich zuständig, und es war meine Entscheidung, Lipsky einzustellen.«
»Deine Entscheidung war falsch.«
»Weiß ich.«
»Wenn ich einen von meinen Leuten, von dir bis zum kleinsten Stallburschen, noch mal während der Arbeit beim Trinken erwische, dann fliegt er. Ohne Ausnahme.«
Verärgerung blitzte zwar in Jamisons Augen auf, doch er nickte: »Du bist der Boß, Gabe.«
Zufrieden nahm Gabe einen Aktenordner vom Tisch und blätterte darin. »Ich werde von nun an mehr Zeit auf der Koppel und bei den Ställen verbringen«, kündigte er an, »ich möchte nicht, daß du denkst, ich wollte dir auf die Finger schauen.«
»Es sind deine Ställe«, erwiderte Jamie steif. »Das Gestüt gehört dir.«
»Allerdings. Und heute morgen wurde mir deutlich vor Augen geführt, daß mich meine Leute nicht ganz ernst nehmen. Sicher mein Fehler.« Er legte den Ordner wieder weg. »Die ersten Jahre, nachdem ich die Farm übernommen hatte, war ich viel zu sehr mit dem Bau des Hauses beschäftigt. Und damit, meine Aufnahme in den erlesenen Klub der Rennstallbesitzer durchzusetzen. Daher habe ich die praktische Seite des Betriebs dir überlassen, aber das wird sich ab sofort ändern. Du bist der Trainer, Jamie, und in allem, was die Pferde betrifft, werde ich deine Ratschläge befolgen. Aber ich mische jetzt wieder mit.«
Diese Phase wird vorübergehen, dachte Jamison bei sich. Nur selten machte sich ein Rennstallbesitzer die Hände mit Arbeit schmutzig, sondern er legte eher Wert darauf, im Rampenlicht zu stehen und achtete darauf, daß der Rubel rollte. »Du mußt tun, was du für richtig hältst«, sagte er.
»Es ist lange her, seit ich das letzte Mal eine Heugabel zur Hand genommen habe.« Gabe erinnerte sich lächelnd daran, wie Kelsey aussah, als sie dieses Gerät wie einen Speer wurfbereit hochgehalten hatte. Dann schaute er auf die große Uhr, die in Jamisons Büro hing. »Wir können bis drei in Pimlico sein. Wen hast du mitgeschickt?«
»Carstairs. Torky reitet, und Lynette soll ihm zur Hand gehen.«
»Dann gehen wir und schauen mal, was für ein Team sie abgeben.«
Sich selbst überlassen, vertauschte Kelsey ihre Schuhe mit einem Paar fester Stiefel und verließ das Haus. Sie wollte nicht zu den Ställen zurückgehen, wo sie doch nur im Weg
stand oder wie ein Wundertier bestaunt wurde. Statt dessen wanderte sie zu den Hügeln hinüber, wo die Pferde friedlich grasten.
Die Ruhe, die über dieser Szenerie lag, bildete einen willkommenen Gegensatz zu der Hektik am Morgen. Und trotzdem mußte sie eine innere Unrast bekämpfen, die sie dazu trieb, weiterzugehen, immer weiter, um zu sehen, was hinter der nächsten Biegung lag.
Wie war es möglich, daß sie sich nicht mehr an diesen Ort erinnerte? Kelsey empfand es als seltsam, daß die ersten drei Jahre ihres Lebens vollkommen aus ihrem Gedächtnis getilgt waren. Gerade in diesen frühen Jahren waren die Weichen für ihr Schicksal gestellt worden, und sie wollte diese Zeit zurückhaben, wollte selbst entscheiden können, was richtig und was falsch war.
An einem weißgestrichenen Zaun blieb sie stehen und sah drei Stuten zu, die wie auf Kommando losgaloppierten, ihre Fohlen immer hinterdrein. Eine vierte Stute stand geduldig grasend da, während ihr Fohlen trank.
Kelsey fand den Anblick sehr idyllisch. Ähnlich einem Postkartenbild, das mit der Realität wenig gemeinsam hatte. Und doch lächelte sie unwillkürlich, als sie zu dem Fohlen hinüberschaute. Sie bewunderte die langen grazilen Beine und den schön geformten Kopf. Wie das Tier wohl reagieren würde, wenn sie über den Zaun kletterte und versuchte, es zu streicheln?
»Sind sie nicht großartig?« Naomi war plötzlich bei ihr. Der Wind fuhr durch ihr kinnlanges Haar; ein
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