Schatten über den Weiden: Roman (German Edition)
zurückhaltend.
Allerdings, sagte sie sich, war es auch nicht gerade höflich, zu lauschen. Sie drückte die Türklinke so hastig nieder, daß sie etwas Tee verschüttete.
Das waren vermutlich ihre Mutter und Gabe Slater. Die Gefühle, die seine Anwesenheit hinter dieser Tür bei ihr auslösten, wollte sie lieber nicht analysieren.
Als sie die Zimmertür hinter sich geschlossen hatte, lehnte sich Kelsey tief durchatmend dagegen. Fast war ihr zum Lachen. Eine erwachsene Frau, die schockiert war, weil eine andere erwachsene Frau – zufällig ihre Mutter – noch ein aktives Sexualleben hatte.
Doch im Augenblick fand sie weder die Situation noch ihre eigene Reaktion darauf sehr erheiternd. Sie stellte Teetasse und Buch ab und ging zum Fenster. Der stille Garten, der unter ihr lag, war in silbernes Mondlicht getaucht. Romantisch, dachte sie, die Stirn gegen die Scheibe gepreßt. Geheimnisvoll. Wie vieles an Three Willows.
Sie wollte weder Romantik noch Geheimnisse. Sie war einzig und allein hier, um den Elternteil kennenzulernen, den man ihr so lange vorenthalten hatte.
Kelsey wandte sich ab und ging zu Bett. Doch sie konnte lange nicht einschlafen, erst als sie hörte, wie die Tür am Ende der Diele geöffnet und wieder geschlossen wurde und jemand leise an ihrer Zimmertür vorbei zur Treppe schlich, fiel sie in einen unruhigen Schlummer.
6
Die Rennbahn in der Morgendämmerung entsprach ganz und gar nicht Kelseys Erwartungen. Zur Welt des Pferderennsports gehörten ihrer Meinung nach Buchmacher und Wettende, dicke Zigarren und schlechtsitzende Anzüge, der Geruch nach schalem Bier und dem Schweiß der Verlierer.
Der betrunkene Pferdepfleger, den Gabe am Tag zuvor gefeuert hatte, paßte genau in ihr Bild von dieser Welt. Die Realität jedoch sah anders aus.
Die Rennbahn lag in dichtem Nebel, als sie mit Naomi dort ankam. Die Pferde waren schon früher eingetroffen, damit sie in Ruhe ausgeladen, gesattelt und auf die Trainingsläufe vorbereitet werden konnten. Es herrschte eine ruhige, beinahe heitere Atmosphäre; die Stimmen klangen gedämpft durch den Nebel, und die hier und da aufgetauchten Gestalten wirkten wie Geister. Am Geländer rund um die Bahn lehnten Männer und nippten an dampfenden Pappbechern.
»Das sind Zeitnehmer«, erklärte Naomi. »Sie bleiben stundenlang hier, messen die Zeiten, beurteilen das Gewichtshandicap der Pferde.« Sie lächelte. »Sie jagen sozusagen der Zeit hinterher. Irgendwie tun wir das alle. Wolltest du dir nicht zuerst einmal einen Überblick verschaffen?«
»Es ist alles . . . nun, ich finde es schön. Die Bäume im Nebel, die leeren Tribünen. Ich hatte es mir ganz anders vorgestellt«, sie wandte sich ihrer Mutter zu, »ganz anders.«
»Die meisten Menschen sehen nur die eine Seite der Medaille. Zwei Minuten um die Runde, und alles ist vorbei. Das ist sicher spannend. Manchmal geradezu gewaltig, und es kann mit einem Triumph oder einer Tragödie enden. Weißt du, oft werden Menschen nur nach ihrem äußeren
Verhalten beurteilt, und man macht sich nicht die Mühe, den Hintergrund kennenzulernen.« In ihrer Stimme lag keine Bitterkeit, sondern sie drückte die schlichte Akzeptanz dieser Tatsache aus. »Jetzt werfen wir mal einen Blick hinter die Kulissen. Da spielt sich nämlich das Wesentliche ab.«
Und dort entdeckte Kelsey die andere, den Zuschauern verborgene Seite des Pferderennsports. Alternde Jockeys, die mit ihrer Karriere kein Glück gehabt oder zu viel Gewicht angesetzt hatten, absolvierten mit den Pferden Trainingsrunden, um sich so vierzig Dollar pro Ritt zu verdienen. Andere, halbe Kinder noch, drängten sich in der Hoffnung, selbst einmal eine Chance zu bekommen, dazwischen. Man diskutierte über die Vorzüge der einzelnen Pferde und entwarf Strategien. Ein Pferdepfleger mit einem Tweedhut führte ein lahmendes Pferd in der Runde herum, auf das er dabei beruhigend einsprach.
Kein Hauch jener vibrierenden Spannung, die Kelsey sich ausgemalt hatte, war zu spüren. Nur Routine. Sie begriff, daß sich all dies Tag für Tag wiederholte. Währenddessen schliefen die meisten Menschen noch oder tranken ihren Frühstückskaffee.
Ihr Blick fiel auf einen Mann im hellblauen Anzug mit blankgewienerten Stiefeln, der in ein ernsthaftes Gespräch mit einem anderen Mann in schäbiger Strickjacke verwickelt zu sein schien. Ab und zu verlieh der Mann im Anzug seinen Worten mit heftigen Gesten Nachdruck. Ein protziger Diamantring in Form eines Hufeisens blitzte bei jeder
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