Schatten über Sanssouci
von
Neuem zu beginnen, doch das Thema nahm eine andere Wendung, blieb lange
einstimmig, als habe jemand versucht, es als reine Melodielinie weiterzuführen.
Quantz fragte sich, was das für eine musikalische Kunstübung sein sollte, als
eine zweite Stimme einsetzte, die mit der ersten in Zusammenhang stand. Sie war
mit ihr verwandt, umrankte sie wie ein Efeustrang den anderen. Ähnliche Motive,
aber doch nicht dieselben …
Das Stück
wiederholte sich, und plötzlich wurde Quantz klar, welches musikalische Wunder
sich da vor seinen Ohren ereignete.
Es war ein Kanon,
der da gespielt wurde – ein Kanon über das raffinierte Thema. Bei einem
normalen Kanon begannen die Noten versetzt und begleiteten sich gegenseitig.
Quantz musste eine Weile zuhören und seinen ganzen musikalischen Verstand
aufbringen, um zu verstehen, dass der Komponist der Musik, die gerade dort drin
erklang, dieses Prinzip verändert hatte – und zwar auf eine Weise, die Quantz
niemals für möglich gehalten hätte. Die zweite Stimme war dieselbe Melodie wie
die erste – aber sie erklang rückwärts und trat dem Thema als sein eigenes
Spiegelbild entgegen, um sich an einem Punkt zu treffen und dann in einer
weiteren Spiegelung wieder auseinanderzugehen. Als hätte der Komponist die
Prinzipien von Gegenwart und Zukunft aufheben wollen. Als habe er sich zum
Herrn der Zeiten gemacht und alles zu einer harmonischen Gegenwart erklärt, zu
einer musikalischen Ewigkeit, die keinen Anfang und kein Ende kannte.
Quantz riss im
Dunkeln die Augen auf, aber mit den Augen sah er nichts. Er sah mit den Ohren.
Sah die Planeten kreisen. Sah die Harmonie in der Natur in den Bewegungen der
Meereswellen, in der Anordnung der Blüten um eine Blume, in Vogelschwärmen. Er
sah die Harmonie und die Schönheit der Welt. Eine Schönheit, die er in seiner
Musik niemals würde darstellen können. Gegen das, was da drin erklang, war
seine Musik elende Stümperei.
Er schlich zurück,
tastete sich die Treppe hinunter und kam an der Tür an. Draußen standen ein
Stück weiter die Soldaten Spalier. Sie beachteten ihn nicht, als er aus dem Dienstboteneingang
schlüpfte.
Die Resonanz der
eigentümlichen Musik erfüllte ihn, als er sich in die Richtung der Stadt
treiben ließ.
***
Kein Weg führte
in die Freiheit. Der Schlüssel, den er dem Wärter entrungen hatte, half Andreas
nicht weiter.
Hinter der kleinen
Stube, in der der Wärter geschlafen hatte, gab es einen weiteren schmalen Gang,
der auf ein paar Stufen stieß. Dahinter versperrte eine rohe, aber sehr stabil
gezimmerte Tür den Weg. Der Schlüssel passte nicht in ihr Schloss.
Andreas harrte wie
vom Donner gerührt vor der Tür aus, er weinte und schrie. Dann ergab er sich in
sein Schicksal und setzte sich auf die Stufen. Immerhin verspürte er keinen
Hunger. Durst drohte ihm auch nicht, denn neben der Tür gab es in der Ecke
einen Brunnenschacht – ein viereckiges Loch, jede Seite etwa so lang wie ein
Männerarm, und bis oben gefüllt. Die Wasserfläche starrte ihn an wie ein
schwarzes Auge.
Er ging zurück in
den engen Raum mit dem Tisch, an dem er gearbeitet hatte, und griff nach den
Papieren. Unschlüssig kehrte er zu den Stufen zurück und schloss die Augen. Er
presste die Blätter an seinen Körper, als könnten sie ihn erlösen.
Was Andreas in seinem
Leben immer wieder beschäftigte, war die seltsame Eigenschaft der Welt um ihn
herum, die nicht auf seine Gedanken reagierte, ihnen nicht gehorchte, ja ihnen
diametral entgegenstand. In seinem Geist herrschten Ordnung und Harmonie. Alles
war einem großen, unveränderlichen Prinzip unterworfen.
Er hatte in Büchern
Bilder von großen Uhrwerken in Kirchtürmen gesehen. Dort griff ein Zahnrad ins
andere, jedes kleine Rädchen, jede Schraube, jedes Pendel war an seinem Platz
und verrichtete exakt die Arbeit, die ihm aufgetragen worden war. Genauso ging
es auch in seinem Kopf zu. Die Zahlen und Proportionen der Dinge, die er sich
vorstellte, passten zueinander.
Aber die
Wirklichkeit, die ihn umgab, wenn er durch die Stadt lief oder seinen Dienst
versah, war anders und unvollkommen. Die scheinbar schnurgeraden, aber im
Detail doch schiefen Straßen zum Beispiel. Die Steine an einer Baustelle, aus
denen ein Haus entstehen sollte: Sie versuchten nur,
gleich groß zu sein, aber es gelang ihnen nicht, sie waren grob und
unterschiedlich. Das schmerzte ihn in seinem Inneren.
Warum, fragte er
sich, konnte die Wirklichkeit nicht auf seine Gedanken reagieren und
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