Schatten über Sanssouci
hinzulegen. Man gab ihm kein Notenpapier, man ließ ihn nicht in
Ruhe komponieren. Man befahl, eine sechsstimmige Fuge zu spielen – über ein
Thema, das Bach noch nie gehört hatte. Aus dem Stegreif. Direkt am Klavier.
Immer deutlicher
wurde die Szene in Quantz’ Erinnerung. Der Moment, als Bachs Eintreffen die
Kammermusik unterbrochen hatte. Seine Majestät hatte die Flöte zur Seite gelegt
und mitgeteilt: »Meine Herren, der alte Bach ist gekommen. Freuen wir uns auf
seinen Besuch und die musikalischen Wunder, die er uns bieten wird.«
Der Seitenblick des
Königs auf den jungen Bach am Flügel war nicht zu übersehen gewesen.
Der Thomaskantor
hatte das Konzertzimmer in Reisekleidung betreten. Nach der förmlichen
Begrüßung nötigte der König ihn sofort ans Klavier.
»Man hört, Sie seien
in der Lage, über jedes Thema Fugen zu improvisieren?«
Bach blieb
bescheiden. »Wenn man es sagt, Eure Majestät.«
»Ist es eigentlich
möglich«, fuhr der König fort, »die Anzahl der Stimmen in einer Fuge ins
Unendliche zu steigern?«
Er ging beim Reden
im Raum herum. Die anderen Musiker standen schweigend abseits, bis auf den
jungen Bach hielten sie die Instrumente in der Hand. Man hatte den Eindruck,
als seien sie zu einem Teil der Einrichtung geworden und als sei Friedrich mit
dem alten Bach allein. Dem Kantor war die Müdigkeit anzumerken, und er
erinnerte mehr und mehr an einen Kandidaten bei einer verzwickten
philosophischen Prüfung an der Universität.
»Ins Unendliche wohl
nicht, Majestät …«, brachte er hervor. Offensichtlich verstand er nicht, worauf
der König hinauswollte.
»Normalerweise gehen
Sie nur bis zur Vier- oder Fünfstimmigkeit, habe ich recht?«
»Es ist sicher so,
Majestät. Wenn Sie es sagen.« Bach blickte auf die Tastatur vor sich. Er wirkte
kein bisschen ungeduldig. Eher demütig.
»Nun, so werde ich
Ihm ein Thema geben und Ihm befehlen, es auf die Verwendung für eine
sechsstimmige Fuge zu prüfen. Ich halte es für meine Pflicht, die Menschen dazu
anzuspornen, ihre Möglichkeiten auszuschöpfen.«
Der König setzte die
Flöte an und spielte die vorbereitete Kette von einundzwanzig Noten – sehr
langsam, als würde er einem Leseanfänger etwas buchstabieren.
Der alte Bach saß
reglos da. Kaum war die Musik verklungen, hob er die rechte Hand und spielte
das komplizierte Thema langsam und fehlerlos nach.
»Sechsstimmig«,
erinnerte der König. »Das kann Er doch, oder habe ich mich in Ihm getäuscht?«
Spätestens jetzt war
sicher auch Bach klar geworden, dass er hier eine Attraktion abgeben sollte.
Und er nahm die Herausforderung an, begann zu spielen, arbeitete eine Fuge
heraus. Aus der einen Stimme wurden zwei, dann kam eine dritte hinzu. Das Thema
wanderte durch die Tonarten. Schon das war eine Leistung, die kaum sonst jemand
so aus dem Ärmel schüttelte. Graun, Benda und die andern standen staunend da.
Nur der junge Bach blickte eher spöttisch drein.
Bach führte das
Thema weiter und weiter aus und kam zum Schluss. Eine lichte Auflösung in C-Dur.
»War das
vierstimmig?«, fragte der König, noch bevor sich der Klang verflüchtigt hatte.
»War das fünfstimmig? War das sechsstimmig?«
»Verzeihen Sie, Eure
Majestät«, sagte Bach. »Ihr Thema ist von solcher Ausdehnung und mit solchen
Raffinessen gespickt, dass eine solche Bearbeitung aus dem Stegreif nicht
möglich ist. Mit Überlegung und Vorbereitung wäre es zu machen, aber so …«
»Er meint, es ist Ihm nicht möglich«, rief der König. »Dabei heißt es, Ihm
sei alles möglich. Er sei ein musikalisches Wunder!
Welch ein Schelm, der etwas auf Gerüchte gibt, nicht wahr?«
Bach blieb
freundlich. »Sehr richtig, Majestät.«
»So habe ich mich in
Ihm getäuscht«, brummte Friedrich. Ein seltsames Lächeln huschte über sein
Gesicht. Als hätte er eine starke Macht besiegt, die ihm feindlich gesinnt war.
Die Erinnerung an
die Ereignisse vor einem Jahr verblassten, und Quantz blickte vor sich ins
Leere, während die große sechsstimmige Fuge drinnen im Saal zu einem grandiosen
Ende fand.
War es wirklich der
junge Bach, der da spielte? Oder war sein Vater auf geheimen Wegen nach Berlin
gekommen und zeigte hier im Stadtschloss heimlich seine Kunst? War es ihm doch
noch gelungen, die Aufgabe des Königs zu lösen?
Nein, das war
unmöglich. Bach war krank, fast blind. Er konnte nicht mehr reisen.
Stille trat ein.
Niemand sprach, als seien alle ganz ergriffen von den Wundern der Harmonie.
Dann schien es
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