Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schatten über Sanssouci

Schatten über Sanssouci

Titel: Schatten über Sanssouci Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: O Buslau
Vom Netzwerk:
Mahlzeiten umsonst? Oder länger?« Im Blick des Wirts lag etwas
Flehendes.
    »Nein, darum geht es
nicht.«
    »Was dann?«
    »Zeigt mir Herrn La
Mettries Zimmer.«
    Schulze riss die
Augen auf. »Aber Herr Quantz, das geht doch nicht … Es ist verboten. Wenn
der Kammerherr dahinterkommt …«
    »Wenn ich dem König
etwas schildern soll, muss ich es selbst gesehen haben, versteht Ihr? Seine
Majestät verabscheut Gerüchte.«
    Der Wirt blickte
sein leeres Glas an und legte die Stirn in Falten.
    Quantz trank seinen
Schnaps. Eine leichte Gleichgewichtsstörung überkam ihn, und er musste sich am
Tresen festhalten. »Überlegt es Euch«, brachte er hervor. »Ich muss gehen.«
    Schulze sah auf und
legte seine fette Hand auf Quantz’ Ärmel. »Also gut. Aber nur ganz kurz.
Niemand darf uns sehen. Liese wäre geschwätzig, aber sie hilft heute ihrer
Schwester waschen. Es bleibt unter uns. Abgesehen davon, dass Ihr den König
informiert. Aber Ihr sagt Seiner Majestät natürlich nicht, wie Ihr von den
Verfehlungen des Herrn La Mettrie erfahren habt, habe ich recht?«
    »Sicher, Herr
Schulze.«
    »Ihr gebt mir Euer
Wort?«
    »Ihr habt es
hiermit. Der König wird nie erfahren, dass Ihr mir das Zimmer des Monsieur La
Mettrie gezeigt habt.«
    »Dann kommt.«
    Quantz spürte die
Wirkung des Alkohols immer stärker und musste sich an den Wänden abstützen, als
er dem Wirt die schmale Treppe hinauf folgte.
    La Mettries Zimmer
lag am Ende des Ganges – zur Straße hinaus, mit Blick auf die Plantage. Schulze
schloss auf. Auf den ersten Blick erkannte Quantz, dass er nicht übertrieben
hatte. Ein stechender Geruch schlug ihnen entgegen. Staub, verschwitzte Kleidung
– vermischt mit dem Gestank nach Fäkalien.
    »Das Schlimme ist,
dass er Liese ausdrücklich verboten hat, aufzuräumen«, sagte der Wirt. »Am
ersten Tag hat sie ja noch all die Papiere auf einen Stapel gehäuft, um Ordnung
zu schaffen und um überhaupt an den Fußboden zu kommen, damit sie ihn wischen
kann. Denn das wird bei uns jeden Tag getan, darauf lege ich Wert. Doch diesem
Herrn ist es nicht wichtig. Er will nicht, dass man auch nur ein Stäubchen
verändert. Lieber verkommt er im Dreck. Er hat Liese sogar untersagt, das
Nachtgeschirr zu leeren. Könnt Ihr Euch das vorstellen?«
    Massen von eng
beschriebenen Blättern bedeckten den Boden, das Bett, den Tisch und die Stühle.
Dazwischen lagen Kleider in Haufen herum: Gehröcke, Hosen und Strümpfe häuften
sich, einzelne Schuhe, Wäsche. In einer Ecke hatte sich ein Berg Perücken
angesammelt. Es sah aus, als hätte sich ein fremdartiges Tier dort ein Nest
gebaut. Quantz fragte sich, wo der Franzose all diese Seiten geschrieben hatte,
denn nirgendwo gab es genug Platz, um sich ordentlich an die Arbeit zu setzen.
    Er schreibt überall,
dachte Quantz. Nicht nur am Pult. Er bringt seine Gedanken zu Papier, wo es ihn
gerade überkommt. Und es sind viele Gedanken – anscheinend hervorgebracht wie
im Rausch – mal am Tisch, im Bett, auf dem Boden.
    Hin und wieder waren
Quantz auf seinen Reisen solche Menschen begegnet, die nicht aus kühler
Überlegung heraus ihre Werke schufen – seien es Musikstücke, Gedichte oder
anderes –, sondern in einem eigenartigen Zustand der Entrücktheit. Quantz hatte
das immer verwirrt. Wie konnte man, ohne im Besitz seiner geistigen Kräfte zu
sein, etwas verfassen, was genau diese Kräfte erforderte?
    »Ich denke, ich habe
nicht übertrieben«, sagte Schulze. »Habt Ihr genug gesehen?«
    »Einen Moment noch.«
Er wollte in das Zimmer treten, was fast unmöglich war, weil jeder Flecken mit
irgendetwas bedeckt war. So beugte er sich nur um die Ecke und bekam ein paar
Blätter zu fassen, die auf dem Waschtisch lagen. Quantz verstand das
Französische gut genug, um den Text lesen zu können.
    »Bitte, Herr
Kammermusiker, wir wollen wieder gehen«, drängte der Wirt.
    »Moment noch«, sagte
Quantz, der sich an einer Textstelle festgebissen hatte.
    Die
Menschen, die an ein jenseitiges Leben glauben, geben sich zweifellos
verführerischen Einbildungen hin, die sie über das Sterben trösten, und dies
tun sie umso intensiver, je unglücklicher sie in diesem Leben sind … Die
Tugend ist nur eine Art dekoratives Beiwerk, das jeden Moment zusammenbrechen
kann … Wir verhalten uns wie Wetterfahnen: wir drehen uns stets nach dem
Wind der Erziehung …
    Er legte die Blätter
wieder hin. Kein jenseitiges Leben. Keine Seele. Was gut ist und was schlecht,
hing also nicht an ewigen

Weitere Kostenlose Bücher