Schattenauge
miteinander herum. Keiner merkte, wie ich vom Waggon sprang. Meine Muskeln zitterten von der Belastung und meine Hände waren mit rußigem Fett beschmiert. Unter meiner Jacke knisterte es. Eine der Kopien von Rubios Foto war übrig geblieben. Ich holte das Blatt hervor und betrachtete es nachdenklich. Auch diesmal gab es mir einen Stich, es zu betrachten. Barbara Villier, die wie eine Verurteilte unter Rubios Fenster stand, ihr Blick anklagend und völlig klar. In den Händen hielt sie ihr Todesurteil, das sie selbst auf das rechteckige Stück Pappe geschrieben hatte: »Wir müssen die Hyänen töten!«
Es dauerte fünf endlose Minuten, bis endlich die nächste Bahn zum Kunstmuseum zurückfuhr. Diesmal hatte ich keine Lust auf ein Rodeo und stieg ganz gesittet in einen Waggon ein. Zoë erwartete mich schon am Bahnsteig. Blass, nervös und ungeduldig. Doch als sie mich sah, huschte ein erleichtertes Lächeln über ihr Gesicht.
»Nichts passiert«, beruhigte ich sie. »Aber Eve ist mir wieder entwischt. Ich kann nur hoffen, dass sie wenigstens die Hälfte von dem verstanden hat, was ich ihr erzählt habe.«
Ihr Lächeln verschwand und mit einem Mal wirkte sie nur noch müde und zerquält. »Was machen wir, wenn sie uns nicht helfen?«, fragte sie leise. Ich konnte ihre Verunsicherung und ihre Furcht spüren und fragte mich, wie es für sie sein musste – aus einem so behüteten Leben von einem Tag zum anderen in den Dschungel geworfen zu werden. Auf Leben und Tod, mitten in die Nahrungskette und die Territorialkämpfe. Und wie wirkte ich auf sie – der Panther, die Bestie?
»Hey«, sagte ich sanft und lächelte ihr zu. »Sieh mich nicht so an. Ich bin’s, Gil! Das schaffen wir schon.«
Ich zog sie an mich und sie erwiderte meine Umarmung.
»Irves wartet«, murmelte sie, während ich ihr über das Haar strich. Es kostete mich einige Überwindung, sie loszulassen, ganz gelang es mir nicht. Hand in Hand gingen wir zur Treppe. Irves stand am oberen Rand der Stufen und hielt bereits Ausschau nach uns. Er sah ziemlich sauer und genervt aus.
»Na endlich!«, blaffte er uns an. »Ich dachte schon, sie hätten euch hier unten abgepasst. Gizmo ist oben schon kurz vor dem Durchdrehen.«
Wie ertappt ließen wir unsere Hände los und folgten ihm im Laufschritt. Es hatte zu regnen begonnen. Wasser suchte sich in Bächen seinen Weg in den U-Bahn-Schacht. Wir hetzten die Treppen hoch und standen gleich darauf vor einer Pfütze, auf der kleine Wasserspitzen tanzten. Genau über dieser Pfütze hatte Gizmos Wagen gestanden. Hatte.
Irves stöhnte auf und hob die geballten Fäuste, als wollte er auf das nächstbeste Autodach einprügeln. »Na klasse!«, knurrte er. »Das hat gerade noch gefehlt. Ich hätte nicht aussteigen dürfen.«
Reflexartig griff ich zu meinem Handy. Fehlanzeige. Vermutlich hatte es irgendwo im U-Bahn-Schacht sein anonymes Grab gefunden. »Zoë, gib mir dein Handy!«, rief ich. Ich nahm es ihr aus der Hand und drückte Gizmos Taste. Ich hätte nicht erwartet, dass er überhaupt ranging, aber er meldete sich ruhig, schien fast emotionslos.
»Na?«, fragte er gelangweilt. »Kaffeekränzchen mit der Gemeinschaft endlich beendet?«
»Was soll das werden?«, schnauzte ich ihn an. »Du lässt uns einfach so hier sitzen?«
Die Hintergrundgeräusche des Wagens waren nicht gerade beruhigend. Der Motor dröhnte, vermutlich stand er mit dem Bleifuß auf dem Gas.
»Ich habe nur keine Lust mehr auf Zeitverschwendung«, erwiderte er trocken. »Ich regle das auf meine Weise.«
Für einen surrealen Augenblick sah ich eine Filmszene vor mir: Gizmo mit Cowboyhut, wie er ganz allein gegen die Banditen zu Felde zog.
»Bist du jetzt völlig bescheuert?«, schrie ich. Irves machte eine warnende Geste, die besagte, dass ich mich beruhigen sollte.
»Das solltest du dich selbst mal fragen, Gil«, erwiderte Gizmo mit dieser gespenstischen, kalten Ruhe, die unheimlich war. »Wenn du glaubst, dass Julian und die anderen dir helfen, dann träumst du.«
»Das lass meine Sorge sein! Wir haben nur eine Chance, wenn wir zusammenhalten.«
Irves und Zoë blickten mich angespannt an.
Gizmo lachte. »Hör zu, Gil«, meinte er dann in diesem herablassenden Tonfall, den ich hasste. »Wenn mir jemand an den Karren fährt, dann sorge ich dafür, dass er damit aufhört. Jeder für sich, so einfach ist das. Ich habe nichts gegen Netzwerke oder gegenseitige Gefallen. Aber ich habe was gegen Gemeinschaften. Wenn du es genau wissen willst:
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