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Schattenauge

Schattenauge

Titel: Schattenauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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Finger schmerzte, als sie sich in Fugen und Ritzen krallte, und ihr Körper schien nur noch halb so schwer zu sein. Oder bin ich nur stärker?, dachte sie. Nie hätte sie zu träumen gewagt, eines Tages ohne Angst klettern zu können, jetzt aber war es wie Atmen – selbstverständlich und einfach… ein angeborener Bewegungsablauf. Konzentriert sprang sie über einen breiten Spalt zwischen Garage und Hauswand, spürte das Spiel ihrer Muskeln, während sie sich hochzog, und erklomm schließlich mühelos das Dach. Unter ihren bloßen Füßen spürte sie die nassen Schindeln und genoss das erstaunlich berauschende Gefühl der Höhe. Gil lächelte ihr zu und für einen Moment vergaß sie die Bedrohung. In diesem Moment der geschenkten Wärme wusste sie, wofür sie ihn besonders liebte: für seine Umsicht, seine Sorge und für die Behutsamkeit, die er so gut hinter seinem jähzornigen und düsteren Wesen zu verbergen wusste.
    Es war tatsächlich möglich, sich von Häuserzeile zu Häuserzeile zu hangeln. Ein ganzes Stück Weges brachten sie auf dem Flachdach eines angrenzenden Lagergebäudes hinter sich. Als der Alte Schlachthof in Sicht kam, duckten sie sich unwillkürlich und schlichen schweigend weiter. Die weiß gestrichene Gebäudeseite wirkte im Regen hellgrau und stumpf. Zoë erinnerte sich daran, wie oft sie im Sommer im Freilichtkino bewegte Bilder auf dieser Wand betrachtet hatte: leidenschaftliche Küsse auf dem körnigen Gemäuer, Tanzszenen, Komödie n … Und heute: Horrorfilm .
    Selbst von hier oben konnte man sehen, dass die Tür zum Club Cinema immer noch versiegelt und verschlossen war.
    »Wenn Gizmo da wäre, hätte er die Tür längst aufgebrochen«, sagte Gil leise.
    »Beim Hintereingang geht es zu den Parkplätzen«, flüsterte Zoë.
    Irves schnaubte. »Er wird kaum den Lieferwagen dort abstellen und fröhlich durch die Tür spazieren.«
    »Es sei denn, er hat das Auto vorher mit Sprengstoff gefüllt«, antwortete Gil. Zoë dachte mit einem mulmigen Gefühl, dass Gils Worte ganz sicher nicht als Scherz gemeint waren.
    »Auf der anderen Seite gibt es auch einen Eingang«, sagte sie leise.
    Irves ging ein paar Schritte zurück und nahm ohne Vorwarnung Anlauf. Zoë schnappte erschrocken nach Luft, dann konnte sie nur noch staunend beobachten, wie er tief in die Knie ging, sich kraftvoll abfederte und über die Kluft der Straße auf das niedriger gelegene Flachdach des Alten Schlachthofs zusegelte. Regen rann über seine weiße Haut und die verschorfte Bisswunde – und gleichzeitig sah Zoë schimmerndes Fell und den geschmeidigen Raubkatzenkörper, der mühelos die Distanz von fast fünf Metern überbrückte. Lautlos landete er auf der anderen Seite und ging ein Stück weiter, ohne sich umzusehen.
    »Du musst nicht springen. Wir können auch einen anderen Weg nehmen«, sagte Gil neben ihr.
    Vielleicht hätte sie erleichtert genickt, wenn Irves sich nicht in genau dieser Sekunde umgedreht hätte. In seinem Blick lagen Spott und Triumph. Na, traust du dich? Und Zoë nahm die Herausforderung an.
    »Geht schon«, sagte sie zu Gil, ging ein paar Schritte zurück und nahm Anlauf. Es war wie auf der Tartanbahn, nur viel sicherer und müheloser – und schneller. Ein Teil von ihr staunte über die Selbstverständlichkeit, mit der ihr Schatten sie führte und sie einfach über den Abgrund trug, unter ihr nur noch der freie Raum und flimmernd in ihrem Zwerchfell ein Glücksgefühl. Sie landete atemlos und sprang sofort wieder hoch. Dann wirbelte sie herum und strahlte Gil über die Straße hinweg an.
    Auf dem mit Kies ausgelegten kleinen Parkplatz befanden sich nur die ausgeschlachteten Wracks von zwei Autos. Von Gizmos Lieferwagen keine Spur.
    Als hätten sie mit der Landung auf dem Schlachthof einen Pakt geschlossen, verständigten sie sich nur noch flüsternd und mit Blicken. Irves zeigte mit einem Rucken des Kinns nach unten zum zweiten Eingang, wo der Briefkasten hing.
    »Ich gehe runter«, flüsterte Zoë. Gil verzog das Gesicht, aber sie kam seinem Protest zuvor. »Ich bin die Seherin«, wisperte sie ihm zu.
    »Wir gehen zusammen«, erwiderte er ebenso leise. »Irves hält hier oben die Stellung und behält die Straße im Blick.«
    Irves nickte und postierte sich am Dachrand.
    Abwärts klettern war viel schwieriger. Zoë balancierte und tastete sich vorsichtig an den Fenstern entlang. Im Schlachthof war es dunkel und leer. Eine Staubschicht lag auf dem Boden, den schon lange niemand mehr

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