Schattenblicke - Thriller
verliebt.
Und sehe ihn vermutlich nie wieder.
Der Wagen tuckert davon. Ich blicke ihm so lange nach, bis er mit den wogenden Weizenfeldern verschwimmt. Und dann endgültig verschwindet.
Dann erst drehe ich mich um und sehe zu den blinkenden Lichtern hinüber.
17 // Sonntagabend
Mir brummt der Schädel. Oder besser: Er summt. Kommt vermutlich vom Flug.
Lange hat er nicht gedauert, knapp eineinhalb Stunden, aber ich bin trotzdem wie gerädert.
Und die vielen Menschen um mich herum erschlagen mich förmlich. Überall wimmelt es vor Leuten, die eilig an mir vorbeilaufen. Eine Frau schimpft auf ihren halbwüchsigen Sohn ein, zwei Kleinkinder mit bunten Zopfbändern im Haar kreischen, und ein Mann redet stakkatoartig in sein Telefon, während wir auf das Gepäckband zugehen.
Ich schließe die Augen und hole tief Luft, während ich vorsichtig nach dem Lederband um meinen Hals taste. Blitzartig kommt die Erinnerung zurück: die mondbeschienene Wiese. Das Feld dahinter, die blinkenden Lichter. Ich war am Feldrand entlanggegangen, ganz vorsichtig, um nicht über die von der Sonne hart gebrannten Krumen zu stolpern. Dann war da eine Straße, und dahinter die Grenze: flache Baracken, uniformierte Typen und Lichter, sehr viele Lichter.
Für einen Moment hatte ich Angst, dann war ich auf den Erstbesten zugegangen. Ein ganz junger Typ war es, mit Flaum im Gesicht. Aber er konnte Englisch.
Später dann dieser Raum, mit dieser grässlichen, viel zu hell leuchtenden Lampe. Ein paar Uniformierte. Telefonklingeln. Alle redeten wild durcheinander. Dann noch mehr Männer, anzugtragende Männer mit ernsten Gesichtern.
Viele Fragen, auf die ich keine Antworten hatte. Ein Dolmetscher schließlich. Und dann ein Wagen. Der Dolmetscher neben mir, ein Anzugträger vorne, ein Fahrer dazu. Die Fahrt über die nächtliche Straße nach Szeged. Das Hotel. Die Frau im Foyer, eine Kommissarin, die Deutsch sprach. Ihr Kollege daneben. Das Zimmer mit dem großen Bett, in dem ich sofort eingeschlafen war. Und dann, am Morgen, das Gesicht meiner Mutter. Sie war schon Tage zuvor nach Siófok gereist, um nach mir zu suchen. Die Ärmste, echt!
»Lexy, alles okay?« Jetzt greift sie nach meinem Arm und sieht mich forschend an, und ich lächele schwach.
»Ja, alles in Ordnung. Ist nur ein bisschen viel gerade.«
Sie nickt. »Kein Wunder, nach so vielen Tagen in Einzelhaft!« Sie lächelt, und ich lächele zurück, aber ein bisschen komisch ist mir auch zumute.
Ja, Einzelhaft, das ist vielleicht das richtige Wort. Eine Woche lang war ich eingesperrt. Habe die meiste Zeit herumgesessen oder -gelegen, ein paar Kniebeugen gemacht, gelesen, gegrübelt. Das vor allem.
Und mich gesehnt.
Nach meiner Freiheit.
Jetzt bin ich frei und endlich wieder zurück in Berlin.
Aber fassen kann ich es noch nicht.
Und ein winziger Teil von mir ist zurückgeblieben.
Ein kleiner Teil meines Herzens.
»Warte hier, ich gucke mal nach, ob mein Koffer schon kommt!« Meine Mutter schiebt sich an das Gepäckband vor, direkt neben einen mürrisch dreinblickenden Geschäftsmann im Anzug, und ich bleibe ein Stückchen entfernt stehen.
Klar, das Gepäck. Ich hab ja keins, nur meinen Rucksack, der mir über der Schulter hängt. Meine Reisetasche, das hat meine Mutter mir erzählt, ist mitsamt meiner Klasse am Mittwoch zurück nach Berlin gefahren. Die Adomeit war allerdings geblieben, um Mama zu unterstützen. Die steife Adomeit! Hätte ich ihr gar nicht zugetraut.
Ich greife in meinen Rucksack, um mein Handy herauszuholen. Etwas knirscht unter meinen Fingern. Verwundert sehe ich nach, dann muss ich lächeln.
Die Salzstangen. Mit Erdnussbutter gefüllt. Die meisten sind zerbrochen, und die klebrige Füllung ist teilweise ausgelaufen, aber das macht nichts. Unwillkürlich muss ich lächeln, als ich mir die Finger ablecke und eine der Salzstangen in meinem Mund verschwinden lasse.
Ich hoffe, du magst die. Serbische Spezialität.
Unter der Tüte liegt mein Handy, und ich hole es heraus und schalte es ein. Versonnen sehe ich zu, wie es sich ins deutsche Netz einloggt. Fast augenblicklich beginnt es zu klingeln. Verdutzt blicke ich aufs Display. Die Nummer ist endlos lang und mir unbekannt. Mein Herz beginnt zu klopfen, als ich das Handy ans Ohr hebe.
»Sascha?«, fragt die leise Stimme meines Vaters. »Sascha, geht es dir gut?«
»Tata?«, frage ich heiser. »Ja, alles okay. Woher hast du meine Nummer?«
»Na, dein Handy lag doch die ganze Zeit über in der Küche«,
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