Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
Nach einer Frische, die in der Nase beißt. Es riecht nach Sturm. Wir führen das Rudel aus dem Bahnhof. Mir wischt der Wind die Haare ins Gesicht, als ich den Himmel ansehe. Die Wolken hetzen einander. Versperren die Sonne. Kein Zweifel: Sturm kommt auf. Sturm hier in der Stadt. Er zaust die letzten Blätter von den Bäumen und jagt sie die Straße hinab.
«Wo lang?», fragt Norrock.
«Zum Spielplatz?» Ich weiß doch auch nicht. Irgendwomuss man schließlich beginnen. Ich weise ihnen den Weg, und die Wölfe, Norrock ist jetzt auch einer von ihnen, jagen in langen Sätzen vor mir her. Ich folge keuchend.
Sturmwarnung im Radio. Das habe ich schon im Krankenhaus gehört. Jetzt kommt die Nachricht von rechts über mir. Aus einem offenen Fenster, das mitten im Satz mit einem Knall zuschlägt. Mitten in der Aufforderung, nach Hause zu gehen und dort zu bleiben. Und Lotti ist da draußen und kommt nicht nach Hause. Und wenn sie trotz des unheimlichen Heulens des Windes in den Straßenschluchten noch da draußen ist, dann hat sie nicht nur die Zeit vergessen. Dann kann sie nicht kommen.
Als Erstes suchen wir den Spielplatz ab. Neben zerrupften Büschen stehen die Bänke, auf denen sonst die Mütter sitzen. Heute sind sie leer. Kein Kinderlachen von der Buddelkiste. Die Wölfe umkreisen, die Nase am Boden, die Klettergerüste. Ein paar eiserne Gestelle in schmutzigem, flachgetretenem Sand. Hat Lotti nicht etwas von Klettern gesagt? Mit ihren Freunden, irgendwo, wo es spannend und aufregend und lustig ist? Hätte ich doch nur besser zugehört! Hier ist es nicht lustig. Die Schaukel schwingt alleine, als hätte ein kleines Gespenst seinen Spaß. Ich lege den Kopf in den Nacken und sehe den Wolken zu, wie sie über den Himmel fliehen. Als ahnten sie eine fremde Gefahr.
Der Thursen-Wolf kommt zu mir gesprungen und stupst mich mit der Schnauze. Ich lege meine Hand in sein Fell, und er drückt sich gegen meine Beine.
Norrock, zum Menschen verwandelt, kommt mit schweren Schritten, die Hände in den Taschen seiner Jacke, zu mir herüber. «Nichts», sagt er. Versucht mit den Fingern die sturmverwehten Haare zu bändigen, währender kurz durch die Nase hochzieht, die die Kälte zum Laufen bringt. «Lotti war nicht hier. Jedenfalls nicht heute.»
Ich reiche ihm ein Taschentuch. «Und wenn der Sturm ihre Spur verweht hat?»
«Willst du uns beleidigen?» Er verzieht das Gesicht. «Wir riechen alles.» Dann erst sieht er das Taschentuch, das ich ihm hinhalte. «Von Wölfen hast du echt keine Ahnung!», murmelt er, als er sich die Nase putzt.
Lotti war nicht hier. Keine Spur von ihr. «Und jetzt?», frage ich.
Norrock zuckt die Schultern. «Wir teilen uns auf. Wir werden schon auf ihre Spur stoßen.» Er versucht, das zusammengeknüllte Taschentuch gegen den Wind in einen Mülleimer zu werfen. Es fällt daneben zu Boden, aber ihm ist es egal, er ist schon mit raschen Schritten auf dem Weg zu den Wölfen, die bei der Buddelkiste sitzen und auf ihn warten.
«Sie hat ihr Fahrrad mit», rufe ich ihm nach. Ob Lotti bei dem Wetter überhaupt fahren kann? Oder wirft der Sturm sie vom Rad?
Ein paar Handzeichen von Norrock, ein paar Blicke zu Thursen, und sie teilen sich auf: Norrock und Zrrie, Rawuhn und Krestor, Jerro, Lurnak und Fath. Der Thursen-Wolf mit dem Halstuch bleibt bei mir, bei Fuß. Der Rest stürmt los. Norrock ist Mensch, die anderen sind Wölfe. Im nächsten Moment sind sie um die Häuserecken verschwunden. Wir, Thursen und ich, biegen eilig in die letzte verbleibende Straße ein. Rechts und links stehen mehrstöckige Wohnhäuser, eins am anderen, grau sind sie alle. Ein abgetretener, verknickter Prospekt weht mir entgegen. Mit einem Fußtritt schubse ich ihn an den Straßenrand. Es sind keine Menschen und kaum Autos unterwegs.Besorgt werfe ich einen Blick auf die Straßenbäume, unter denen ich hindurchhaste. Sie sehen stabil aus. Hoffentlich fällt mir kein morscher Ast auf den Kopf. Der Thursen-Wolf ist ein paar Schritte voraus, die Nase im Wind.
«Luisa?»
Eine Stimme, hinter mir. Eine Stimme, die ich kenne. Unwillig bleibe ich stehen. Das Letzte, das wirklich Allerletzte, was ich jetzt brauchen kann, ist Edgar mit seinem Hund.
«Hi!», sage ich und drehe mich zu ihm. «Was ist?» Nun rede schon, denke ich. Ich muss Lotti suchen, und hier ist alles voller Wölfe.
Edgar kann nicht antworten. Sein Hund hängt sich in die Leine, sträubt sein Nackenfell und kläfft wütend. Ich bin wohl nicht der Grund
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