Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
behauptet, er folgt Thursen, akzeptiert ihn als seinen Leitwolf. Offenbar ist heute der Tag, an dem er damit aufhört. «Norrock, du hast doch gesagt, du schuldest Thursen etwas!», schreie ich ihn an «Er ist dein Leitwolf!»
Norrock besitzt wirklich die Frechheit, mir wie einem kleinen Kind durch die Haare zu wuscheln. «Manchmal muss man auch einen Leitwolf vor sich selbst beschützen», er wendet sich an Thursen, «besonders, wenn er das ganze Rudel in Gefahr bringt.»
«Ich will doch bloß, dass ihr Lotti helft!», fauche ich und tauche unter seiner Hand weg.
«Hört sich nett an. Was du aber willst, ist, dass wir alle aus der Deckung kommen und am hellen Tag durch die Stadt laufen. Hast du darüber mal nachgedacht? Autos, Leute, die ganze Stadt ist voll, und nichts, wo man sich verstecken kann. Was, wenn auch nur einer von denen da draußen erkennt, was wir sind? Was dann, Prinzessin?»
«Lotti ist da draußen!»
«Deine Lotti kommt vielleicht bloß zu spät vom Spielen nach Hause, weil sie bei einer neuen Freundin die Zeit vergessen hat!»
«Das macht Lotti nicht!»
«Wenn du es –»
Thursen heult. Der schlanke, dunkle Leitwolf sitzt auf der Lichtung, den Kopf in den Nacken gelegt, und ruft das Rudel. Norrock atmet tief, und ich sehe, wie ihn ein schwarzer Schauer überläuft. Er will sich noch nicht verwandeln, kämpft dagegen an, aber er weiß, dass er muss. Steifbeinig und mit geballten Fäusten geht er zu Thursen hinüber und geht ganz langsam ihm gegenüber in die Knie. Er schließt die Augen und lässt es geschehen. Dann sitzen sich die zwei Wölfe gegenüber. Norrock war immer schon breiter und wuchtiger als Thursen, auch in seiner Wolfsform. Was wird das Thing bringen? Wie wird es ablaufen?
Nach und nach kommen sie alle. Krestor bricht aus dem Gebüsch hervor. Rasch trommelnde Pfoten bringen Fath und Rawuhn. Da ist Jerro.
Sjöll hat gesagt, ich kann mit den Wölfen nicht mehr sprechen. Nicht ich mit meinen Menschenworten, das stimmt. Aber untereinander können sie es offenbar. Richtig sprechen. Nicht nur das, was ich bisher mitbekommen habe, Winseln, Knurren und Kläffen als Aufforderung zum Spiel. Doch ich kann ihre Sprache nicht deuten. Aber sie scheinen zu diskutieren. Ob sie Lotti helfen sollen oder nicht?
Norrock bleckt die Zähne. Rawuhn antwortet mit tiefem Grollen. Zrrie an Norrocks Seite sträubt das Fell. Thursen sitzt da, aufgerichtet, und hat den Überblick. Was soll das heißen? Unterstützt Rawuhn Thursen? Und Zrrie Norrock? Was denken die anderen? Ich fange an, auf und ab zu laufen. Reiße wahllos Zweige von den Bäumen. Warte auf eine Entscheidung. Wie bei Fabian. Genau wie bei ihm damals, als wir auf den Anruf aus dem Krankenhaus gewartet haben. Wirkt die Chemotherapie? Müssendie Ärzte noch einmal operieren? Ohne es zu wollen, bin ich zu Fabians Baum geraten.
Damals, bei Fabians Krankheit, musste ich auf die Entscheidung der Ärzte warten. Nur die Ärzte konnten Fabian helfen, und ich bin keiner. Diesmal bin ich nicht so hilflos. Es wäre schön, wenn die Wölfe helfen würden, aber Lotti kann ich auch allein suchen, dafür brauche ich keine Ausbildung. Nein, es ist nicht wie bei Fabian. Diesmal werde ich nicht warten, wie sich jemand anders entscheidet. Ich gebe den Wölfen noch zehn Minuten, dann mache ich mich allein auf den Weg. Und werde jede Minute verfluchen, die ich auf sie gezählt habe.
Lärm. Ein tiefes Grollen, wie bei meinem ersten Besuch im Lager, dass man meint, die Erde selbst spräche zu einem. Thursen und Norrock stehen sich gegenüber. Sträuben das Nackenfell und blecken die Zähne. Umkreisen sich steifbeinig. Sprungbereit.
Diese Körpersprache verstehe ich. Das hat nichts mehr mit Diskussion zu tun. Norrock hat Thursen herausgefordert, wegen mir. Sie werden um die Macht kämpfen. Der erschöpfte, übermüdete Thursen gegen den stärksten der Wölfe, gegen Norrock. Ich habe Angst.
Thursen macht einen Schritt nach vorne, da springt Norrock los. Ohne Vorwarnung. Noch im Sprung schlägt er Thursen die Zähne ins Fell, knallt ihm in die Rippen. Thursen wird von der Wucht zu Boden geschleudert, wendet blitzschnell den Kopf, packt Norrock am Nackenfell und versucht, ihn von sich zu reißen. Verknäult und ineinander verbissen rollen beide über den Waldboden. Plötzlich lassen sie los, springen auseinander, belauern sich, knurren, stehen sich mit gesträubtem Fell gegenüber.
Sind das auch Wolfssachen, die mich nichts angehen?Wütend stapfe ich
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