Schattenbluete - Band 2 - Die Waechter
Gesicht sprüht. Ich könnte für immer bei ihm bleiben. Seinen wunderbaren Händen zusehen, die die Farbrolle halten. Sein Lachen in Schraubgläser verpacken, in Tüten einschweißen, sodass ich es in den trüben grauen Stunden hervorholen kann, in denen ich wieder einmal nicht weiterweiß. Doch für einen Augenblick, als er sich über den Farbeimer beugt und glaubt, ich würde ihn nicht beobachten, meine ich, eine tiefe Sorge in seinen Augen zu lesen. Bis er im nächsten Atemzug wieder lacht.
Nachdem wir fertig sind, duschen wir beide nacheinander. Thursen lädt mich zum Italiener ein, und wir feiern den frisch gestrichenen Flur mit unseren Lieblingspizzen. Allein fahre ich anschließend nach Hause. Diesmal hat er mich nicht gefragt, ob ich bleibe, hat mich nur zur U-Bahn gebracht und ist dann in der Dunkelheit verschwunden. Als ich anschließend erschöpft vom Malern allein in meinem Bett liege, wünsche ich mir, er würde anrufen. Doch das Handy bleibt still. Ich weiß ja noch nicht einmal, ob er nach Hause gegangen ist oder ob er irgendwo in der Stadt herumstreift. Ich wünschte so, es wäre wieder wie am Silvesterabend. Voller Hoffnung, nur Thursen und ich. Doch etwas hat sich verändert, ist zwischen uns getreten, trennt mich von ihm, und dabei will ich nichts mehr, als bei ihm zu sein.
Als ich am nächsten Morgen aufstehe, ist schon alles weiß beschneit, und es schneit weiter. Schnee knirscht unter meinen Füßen, als ich mich auf den Weg in den nachtfinsteren Wintermorgen mache, meine Schultasche über der Schulter und meinen Sportbeutel in der behandschuhten Hand.
In der überfüllten Bahn riecht es nach feuchter Kleidung und nassen Haaren. Ich stehe eingequetscht, den Rücken an der Trennwand. Kann mich gerade so weit vorbeugen, dass ich meine Schultasche und den Sportbeutel auf dem Boden zwischen meinen Füßen abstellen kann. An der nächsten Haltestelle wird es noch voller. Eine Frau im weinroten Mantel klemmt sich neben mich. Mit ihren lackierten Nägeln tippt sie auf dem winzigen Bildschirm ihres Smartphones herum und bohrt mir dabei ihren Ellenbogen in die Seite. Es klickt, wenn sie das Bild wechselt. Klatsch. Tratsch. Und dann eine Nachricht aus Berlin: «Silvestertoter möglicherweise Opfer von Kampfhundattacke. Sind in Berlin die Bestien los?»
Ich bin so gebannt, dass ich fast meine Haltestelle verpasse. Die Bahn hält schon. Schnell, bevor die Ersten beginnen einzusteigen, ergreife ich meine Schultasche und lasse mich im Pulk der Morgenmüden auf den Bahnsteig spülen. Bin zu spät, laufe auf der Rolltreppe an den Leuten vorbei und haste über den Bahnhofsvorplatz. Kann gerade noch einem splittsprühenden Schneeräummobil ausweichen. In diesem Augenblick verfluche ich das Versprechen, ein normales Leben zu führen, das ich Thursen und mir selbst gegeben habe. Denn sonst würde ich jetzt nicht über den spiegelglatten Weg schlittern, sondern nachforschen, was es mit der Schlagzeile auf sich hat. Hat sich die Polizei von Thursens Tat doch nicht täuschen lassen? Wissen sie, dass der Junge im Wald totgebissen und nicht erschlagen wurde?
Es gongt bereits, als ich die Schule erreiche. Am ersten Tag nach den Ferien ist das Gebäude noch sauber. Alles Papier, aller Müll ist aus den Ecken verschwunden. Dafür überzieht die Gänge eine breite Spur aus feuchtem Schneeschmutz. Fußabdrücke derer, die aus den Weihnachtsfeiertagen zurückgekehrt sind. Jungs begrüßen sich lautstark über die Köpfe der anderen hinweg. Mädchen fallen sich in die Arme, verteilen Küsschen. In den Gängen bilden sich Grüppchen, eifrig erzählend, zu denen ich nicht gehöre. Kein Blick fängt meinen. Mein Schließfach, in das ich meinen nassgeschneiten Schal und meine Handschuhe stopfe, ist leer und kahl, wie ich es übernommen habe. Ich habe keine Spuren hinterlassen, keine Fotos, von innen an die Tür geklebt, und nichts darangeschrieben. Was ich öffne, ist nur eine Blechtür mit leicht abgeschabtem Lack, die ein dunkles Fach in einem Blechschrank verschließt. Immer noch fühle ich mich, als sei ich nur zufällig hier. Bin auch Monate nach meinem Umzug noch nicht in dieser Schule angekommen. Ich hasse das Kurssystem, das mich zwingt, in jedem Fach mit anderen Leuten zusammenzusitzen. Die Mitschüler sind mir fremd wie die Räume, in denen der Unterricht stattfindet. Mal bin ich in diesem, dann wieder in jenem fremden Klassenraum ungebetener, unwillkommener Gast. Den Stoff beherrsche ich immer noch nicht gut
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