Schattenbluete - Band 2 - Die Waechter
ist es tausendmal besser als allein. Seine Nähe vertreibt mir die Albträume. Ob er auch welche hat, wenn er allein schläft, genauso wie ich?
Als das Schweigen beginnt, sich schwarz und zäh wie Teer zwischen uns zu drängen, sagt er leise: «Schlaf, Luisa.»
Ich liege bei ihm, meine Arme und Beine schwer und müde, doch mein Geist ist hellwach. Meine Finger finden tastend seine und verhaken sich mit ihnen. Ja, ich liebe ihn.
Als wir uns das erste Mal begegnet sind, war er der, der mir mein Leben festgehalten hat, das ich vor Kummer wegwerfen wollte. Und ich war für ihn die, die er retten konnte vor dem Sprung ins Nichts. Etwas, das er bei seiner Mutter nicht geschafft hat. Sie ging in den Tod. Doch bei mir, bei mir war er rechtzeitig zur Stelle. Dabei war er selbst nur noch halb am Leben.
Und ich? Ich konnte nicht verhindern, dass mein Bruder starb, doch ihn, Thursen, konnte ich im Leben festhalten. Wir haben einander so viel bedeutet, schon bevor wir uns richtig kannten. Inzwischen kennen wir uns ganz und gar, mit Leib und Seele. Und das Wunder ist passiert. Wir lieben uns immer noch. Mehr noch als zu Beginn.
Ob er das genauso sieht? «Bereust du, dass du dich von mir hast zurückverwandeln lassen?»
«Fragst du das wirklich?», raunt er und streift meinen Nacken mit seinen Lippen, dass ich eine Gänsehaut bekomme. «Was ist denn ein verdammtes Wolfsleben gegen ein Leben mit dir?»
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6. Elias
Ich weiß nicht, was ich erwartet habe. Noch eine Versammlung? Wenigstens eine kleine Abordnung, die mir offiziell erklärt, warum der Rat entschieden hat, wie er entschieden hat?
Stattdessen werde ich in unserer Zentrale am Empfang von einem kleinen Männlein begrüßt, dessen Namen ich nicht verstehe. Er geleitet mich zu einer Tür am Ende des Ganges und klopft.
Der Mann tritt ein und grüßt die Shinanim hinter dem Schreibtisch voller Ehrfurcht. «Dies ist Elias, den ich zu dir schicken sollte, Helena», sagt er und zeigt auf mich. «Dies ist Helena», erklärt er, und sein Tonfall sagt mir, dass ich mich sehr geehrt fühlen muss, dass sie mir ihre Aufmerksamkeit gewährt. Nun, wir werden sehen.
«Ich kenne Elias bereits», sagt Helena und entlässt den Mann mit einer Handbewegung. Sie begrüßt mich mit kurzem Kopfnicken. Ungeschminkt ist sie, die mausblonden Haare glatt zurückgekämmt. Habe ich sie schon einmal gesehen? Die eichhörnchenschnelle Bewegung, mit der sie sich eine herabgerutschte Haarsträhne hinters Ohr klemmt, kommt mir vage bekannt vor. Ob sie weiß, dass sie eine von denen ist, die man nach jeder Begegnung wieder vergisst? Wie zum Trotz trägt sie die Kette mit unserem Ordenszeichen, die ich normalerweise unter meiner Kleidung verberge, offen um den Hals. Auf ihrer makellos weißen Bluse sieht das geheime Zeichen wie ein Verkehrsschild aus.
«So», sagt Helena mit einer Stimme, schwarz und bitter wie der Kaffee, der vor ihr steht. Bietet mir mit einer Handbewegung einen Stuhl an. «Etwas zu trinken, Elias? Du kommst spät.»
«Nein, ich bin pünktlich», sage ich. «Für mich bitte ein Glas Wasser.»
Ich sehe Helena stumm dabei zu, wie sie eine bläuliche Flasche aufschraubt, die klare Flüssigkeit langsam in ein Wasserglas plätschern lässt und die Flasche dann wieder schließt. Sie stellt das Glas vor mir ab und zieht einen Ordner aus dem Regal, der zweifellos meinen Antrag enthält. Nachdem sie sich endlich wieder gesetzt hat, legt sie den Ordner auf die Tischplatte, richtet ihn genau mittig vor sich aus, als hätte sie alle Zeit der Welt. Aber ich durchschaue sie. Sie wartet darauf, dass ich nervös werde, schwach werde, sie anflehe, mir
bitte, bitte
endlich zu sagen, wie der Rat entschieden hat. Sie ist nicht die Erste, die mir meine Position neidet und versucht, mich auf den Platz zu verweisen, der mir aufgrund meines Alters – ihrer Meinung nach – zukommt. Doch ich spiele ihr Spiel nicht mit. Ich schlucke meine Ungeduld hinunter, trinke einen Schluck Wasser und warte.
Helenas Hand bleibt auf dem Ordnerdeckel liegen. «Tut mir wirklich leid.» Sie trägt einen Goldring mit einem ovalen blauen Stein am Ringfinger. Blaue Adern, die sich über ihren Handrücken ziehen, verraten ihr Alter noch deutlicher als die senkrechten Falten zwischen ihren Augenbrauen. «Du weißt natürlich, dass der Rat deinem Wunsch, so wie er vorgetragen wurde, unmöglich entsprechen konnte, nicht wahr, Elias?»
«Für diese Antwort hat der Rat mich extra herkommen lassen?» Ein
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