Schattenbluete - Band 2 - Die Waechter
genug, um mich einmal sicher zu fühlen. In keinem verdammten Fach.
Jetzt muss ich in den Physikraum. Ich bin zu spät, doch als ich atemlos an meinen Platz hetze, hat die erste Stunde trotzdem noch nicht richtig begonnen. Nach und nach kommen die durchweichten Schüler herein, die mit dem Bus oder dem Auto der Eltern im schneebedingten Stau steckengeblieben sind. Klar, bei Schnee geht gar nichts mehr in Berlin. Die Straßen sind schon bei Sonnenschein zu voll. Und noch einmal öffnet sich die Tür. Edgar, mein Tischnachbar, kommt leise in die Klasse getappt. Sonst ist er nie zu spät, doch heute hat der Lehrer bereits seinen Versuch aufgebaut und erklärt anhand eines Tafelbilds, was gleich passieren wird. Edgar nickt mir stumm zu, um niemanden zu stören.
«Hallo», flüstere ich. Edgar sitzt in mehreren Kursen neben mir. Vermutlich, weil er der Einzige ist, der es mit mir aushält. Der Einzige, der gar nicht zu merken scheint, wie fremd und abweisend ich auf die anderen wirke. Edgar tut immer noch, als seien wir Freunde, oder jedenfalls, als würden wir morgen welche. «Schönes Fest gehabt?», flüstert er. Klappt sein Physikbuch auf und schiebt es so, dass ich mit hineinsehen kann. Das Buch hätte ich mir schon im Sommer, zu Beginn des Schuljahres, kaufen sollen, damals, als ich mit dem Leben aufgehört hatte. Damals, als ich wirklich andere Sorgen hatte als ein Buch.
«Nein», antworte ich. «Weihnachten war beschissen.»
«Tut mir leid. Meins war schön wie immer.» Ich mag es, dass er nie nachfragt, nie versucht, mich auszuquetschen. Vielleicht werden wir ja doch Freunde. Irgendwann mal.
Ich bringe den Tag irgendwie hinter mich. In der letzten Doppelstunde haben wir Sport. Erst in der Umkleide fällt mir auf, dass der Beutel mit meinen Sportsachen fehlt. Ich muss ihn auf dem Weg zur Schule irgendwo in der U-Bahn liegengelassen haben. Verdammt! Natürlich habe ich trotzdem keine Freistunde. Eine verflixte Doppelstunde lang sitze ich in der Turnhalle auf dieser winzigen Holzbank und sehe den anderen zu, wie sie Volleyball spielen. Wie sie klatschen, wenn eine einen perfekten Aufschlag schafft.
Nach dem Unterricht will ich nach Hause, doch die Sportlehrerin fängt mich ab. «Luisa», beginnt sie. «Ihr Schwänzen lasse ich Ihnen keinen einzigen Tag mehr durchgehen. Sie hatten genug Zeit, sich endlich einzufügen. Entweder Sie spielen morgen in dem Parallelkurs mit Volleyball, oder Sie brauchen gar nicht mehr zu kommen, und ich bewerte Ihren Kurs mit null Punkten. Sie wissen, was das bedeutet.»
Ja, ich weiß ziemlich genau, was das bedeutet. Null Punkte. Keine ausreichenden Sportkurse. Kein Abi. «Ich habe meine Sportsachen heute Morgen auf dem Weg zur Schule verloren.»
«Ja, sicher! Ganz zufällig. Ich kenne Sie – und das will etwas heißen, so selten, wie Sie in letzter Zeit zur Schule gekommen sind!»
«Ich war da. Die letzten Wochen vor den Ferien war ich da! Da waren Sie krank!»
«Sie sind eine Schulschwänzerin, Luisa. Ich kenne Ihre Akte. Morgen sehe ich Sie mit Sportsachen in meinem Unterricht! Das ist Ihre letzte Chance, verpassen Sie sie nicht!»
Meine Wut hält den ganzen Heimweg an. Zu Hause stürme ich in die Wohnung. Ich bin allein. Meine Mutter arbeitet noch. Eigentlich würde ich viel lieber zu Thursen fahren und mit ihm über die Nachrichten sprechen, aber ich muss ja irgendwie noch neue Sportsachen kaufen. Also werfe ich schnell meine Schultasche in mein Zimmer und stecke mir Geld ein. Ich weiß mittlerweile, in welchem Buch meine Mutter das Notfallgeld zwischen den Seiten versteckt. Zwei Scheine fische ich nach Kapitel vier heraus und lasse sie knisternd in mein Portemonnaie rutschen. Dann nehme ich mir das Telefon und wähle Thursens Nummer.
Nichts. Anrufbeantworter. Ich versuche es auf seinem Handy. Endlich geht er ran. «Wo steckst du denn? Ich muss dich unbedingt sehen!», sage ich statt einer Begrüßung. «Hast du heute schon die Nachrichten gesehen? Die Polizei weiß, dass der Mann im Wald nicht erschlagen wurde.»
«Ja, ich habe es gelesen.»
«Ich muss noch neue Sportsachen besorgen, lange Geschichte, aber gleich danach komme ich zu dir. Dann können wir überlegen, was wir unternehmen.»
«Luisa, ich habe dir gestern schon gesagt, es gibt nichts, was wir tun können. Hör zu, ich bin noch unterwegs. Ich ruf dich an, sobald ich wieder zu Hause bin. Und, Luisa? Wegen der Wölfe machst du gar nichts, klar?»
Meine Stimme wird lauter. «Wir müssen endlich zur Polizei
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