Schattenbluete - Band 2 - Die Waechter
Ordnung?»
«Ja, natürlich. Gefällt es dir hier oben? Guck doch mal, die Aussicht!»
«Ist toll hier», sage ich und schaue hinunter auf die Tauentzienstraße, auf der viele Meter unter uns die Autos fahren.
Meine Mutter nickt und sticht ihre Gabel nach dem Salat in den Obstkuchen. «Ja, nicht? Vielleicht sollten wir mal zusammen mit deinem Freund hergehen, ich würde ihn gerne besser kennenlernen.»
«Klar, warum nicht.» Und als meine Mutter dann ihr Würstchen gedankenverloren in die Kuchensahne stippen will, frage ich lauter: «Mama, jetzt sag endlich, was los ist!»
Sie schluckt und greift nach ihrer Papierserviette. «Wirklich, Luisa, es ist alles in Ordnung!», schluchzt sie. Will die Serviette an ihren Mund heben, heult plötzlich los und tupft sich die nassen, roten Augen mit der Serviette ab.
Ich sehe aus dem Fenster, weil ich ihr nicht beim Weinen zugucken kann. Runter, auf die Straße vor dem KaDeWe, die den Wittenbergplatz säumt. Zwischen den Imbissbuden und Zeitungsständen fällt mir ein Junge mit einer weinroten Mütze auf dem Kopf auf. Im Gegensatz zu seiner farbigen Mütze sieht der Rest von ihm verblichen, schattengrau aus. Er hat einen großen, dunklen, struppigen Hund an seiner Seite. Unbeeindruckt schlängeln sie sich zwischen den Einkaufstüten tragenden Menschen hindurch. Nein, es ist andersherum: Die Menschen weichen den grauen Gestalten aus. Der Hund hinkt ein bisschen. Ein Hinken, das mir bekannt vorkommt. Das ist Krestor, der Werwolf, und ich wette, der Junge mit der Mütze neben ihm ist auch einer, wenn auch in menschlicher Gestalt. An einem Zeitungskiosk bleiben sie stehen, scheinen auf irgendetwas zu warten.
Und dann kommt hinter dem Kiosk Thursen hervor und geht auf sie zu. Ihn würde ich überall erkennen, auch aus dem siebten Stock. Ich sehe, wie seine Hände sich bewegen, als er auf sie einredet. Thursen und die Werwölfe.
«Ist irgendwas da draußen, Luisa?», fragt meine Mutter, und ich merke, dass ich meine Kuchengabel so fest in meiner Faust drücke, dass es schmerzt.
Klirrend lasse ich die Gabel auf den Teller rutschen und schiebe meinen Stuhl zurück. «Mama, mir ist plötzlich furchtbar übel. Ich muss an die frische Luft!»
«Du bist auch ganz blass. Warte, ich komme mit, ich bringe nur kurz die Tabletts weg.»
Ich nicke. «Ich geh schon vor und warte draußen vor dem Kaufhaus auf dich.» Mit meiner Jacke in der Hand bin ich schon halb aus dem Restaurant. Rolltreppe um Rolltreppe laufe ich abwärts, weil ich nicht auf den Fahrstuhl warten kann. Dann bin ich durch die große Eingangstür, draußen in der Winterluft muss ich mich erst einmal zurechtfinden. Von oben sah alles so anders aus. Endlich weiß ich wieder, wo ich Thursen und die Werwölfe gesehen habe, doch dort sind sie nicht mehr. Ich versuche, mich zwischen die Menschen zu drängen, umrunde die Kioske, laufe sogar in den Bahnhof hinab, aber sowohl die Werwölfe als auch Thursen sind verschwunden. Atemlos und voller Wut kehre ich zum Eingang des KaDeWe zurück, aus dem meine Mutter gerade mit unseren Tüten kommt.
«Alles in Ordnung, Luisa?», fragt sie.
Ich schüttle den Kopf.
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8. Elias
Der Rat lässt mir freie Hand bei der Auswahl. Jedenfalls behaupten sie das. Das «Casting» findet in den Räumen des Rates statt. Helena führt die jungen Shinanim, die mir ihr Interesse bekundet haben, einen nach dem anderen in den leeren Raum, in dem außer drei Stühlen nichts steht. Was sollte hier auch sein? Ich brauche keine Geräte, um die Fitness zu testen. Wir Shinanim sind alle sportlich, und alles andere kann man trainieren. Es müssen auch keine Fragebogen ausgefüllt, keine Aufsätze verfasst werden. Ich lasse sie einfach reden. Die Richtigen werden mich schon davon überzeugen, dass sie der Aufgabe gewachsen sind.
Helena betrachtet jeden Bewerber und jede Bewerberin mit einer Mischung aus Neugier und Ablehnung. Und ich bin sicher, dass sie Josias von jedem Einzelnen berichtet.
Jetzt sitzen sie also vor mir, die jungen Shinanim, und ich soll sie in höchstens einer Stunde kennenlernen und beurteilen, ob sie geeignet sind.
Neben mir sitzt Adrian und schreibt mit. Mit ihm musste ich kein Auswahlgespräch führen. Ich kenne ihn seit unserer gemeinsamen Ausbildung. Doch während ich Stufe um Stufe aufgestiegen bin in der Hierarchie, gehört Adrian immer noch zum niedrigsten Rang. Was in erster Linie an seinem Unwillen liegt, sich an die Regeln und ungeschriebenen Gesetze
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