Schattenbluete - Band 2 - Die Waechter
steige ich in meinen BMW , tippe die Koordinaten, die Konstantin mir genannt hat, in mein Navi ein und gebe Gas. Das Auto mit Selina, Felix und Sarah folgt mir ebenso schnell.
Die Zielkoordinaten sind im Tierpark. Wir lassen die Autos im Halteverbot stehen, aber wen interessiert das, wenn es um Menschenleben geht? Himmel, so viele Spaziergänger, dass wir nicht richtig durchstarten können, ohne aufzufallen. Quälend langsam kommen wir voran. Raquels atemlose Stimme drängt am Handy. Konstantin und sie schaffen es nicht alleine.
Endlich werden die Nachschwärmer weniger, und leichter Nebel bedeckt die Wiesen. Als uns niemand mehr beobachtet, rennen wir. Richtig.
Kämpfende, schreiende, tretende, schlagenden Gestalten im Winternebel. Nach wenigen Sekunden sind wir mitten unter ihnen. Lehren die Werwölfe das Fürchten und verschaffen den Menschen die Chance zur Flucht. Schon nach wenigen Minuten ist alles entschieden. Die Werwölfe jagen davon.
Wir haben den Kampf gewonnen und sind doch zu spät gekommen. Die letzten menschlichen Kämpfer humpeln hastig, auf ihre Mitstreiter gestützt, davon. Ein Mädchen, etwas jünger als wir, lassen sie zurück, verletzt am Boden liegend. Raquel kniet bei ihr, deckt sie mit ihrer Jacke zu und versucht, sie zu beruhigen. Das Mädchen wimmert, weint, schreit und schlägt immer wieder nach Raquel. Erst als die dunkelhaarige Shinan ihr in die Augen sieht, wird sie ruhiger. Adrian hat den Krankenwagen gerufen. Das Mädchen hat noch Glück gehabt. Doch da liegt noch jemand, ein Mensch, der keinen Krankenwagen mehr brauchen wird. Mir wird ganz anders. Der Junge, ungefähr so alt wie der Tote vom Tegeler Forst, ist nicht mehr am Leben, daran besteht kein Zweifel. Zerfetzt von den Wölfen. Thursens Rudel hat wieder zugeschlagen. Hätten wir ihn doch gestern nicht mit Luisa allein gelassen, sondern gleich weggesperrt! Wie kann Luisa nur etwas an diesem Mörder finden?
Und ein bisschen schäme ich mich dafür, dass es diese Frage ist, die am meisten wehtut.
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29. Luisa
Ich schlafe, eingewickelt in Thursens Decke, die dünner ist als meine. Die sich anfühlt, als würde sie mich nicht wie meine eigene Decke vor Nachtgedanken verbergen. Doch ich bin so müde, dass ich schließlich trotzdem schlafe. Bis mich ein Geräusch aus dem Schlummer scheucht. Da war etwas. Thursen, endlich kommt er zurück! Angestrengt lausche ich ins Dunkel auf das Geräusch von leisen Schritten unten im Flur. Gleich wird er die Treppe hochkommen zu mir. Doch dann merke ich, dass das, was ich da höre, nur mein eigener erwartungsvoller Herzschlag ist. Da ist niemand. Ich grabe mein Gesicht ins Kopfkissen, suche seinen Geruch. Er wird kommen. Irgendwann. Später. Wenn ich das nächste Mal erwache, werden es seine Schritte sein, die mich geweckt haben.
Doch als ich am Morgen aufwache, neben mich taste, ist da nichts als die Wand. Er ist die ganze Nacht nicht nach Hause gekommen.
Ich hasse die Werwölfe, die ihn mir wegnehmen. Hasse es, dass er an sie gebunden ist. Hasse, dass ich nicht weiß, wo er ist und was er tut.
Thursen hat sein Versprechen nicht gehalten, ist nicht gekommen, und das Leben geht einfach trotzdem weiter. Ich kann nicht länger auf ihn warten, wenn ich nicht zu spät zur Schule kommen will.
Den schneedunklen, laternengesäumten Schulweg, Bus, U-Bahn, laufe ich ab wie programmiert. Denn meine Gedanken sind immer noch bei Thursen. Nicht nur meine Gedanken, auch meine Enttäuschung und meine Wut. Wegen der Wölfe hat Thursen mich allein gelassen. Schon wieder.
Im Pulk meiner Mitschüler lasse ich mich vom Bahnhof zur Schule treiben. Plötzlich greift mich jemand am Arm und zieht mich aus der Schülerschar heraus. Ich blicke auf und in eisblaue Augen, aus denen jede Freundlichkeit weggewaschen ist. «Elias? Was machst du hier? Lass mich los!»
Ein paar Meter, bis wir nicht mehr gestupst und angerempelt werden, dann löst er seinen Griff. Dreht sich zu mir und vergräbt die Hände in den Taschen seiner hellbraunen Jacke. «Ich muss mit dir reden», sagt er.
«Ich habe Schule!»
«Luisa. Es ist wichtig.» Er sieht mich eindringlich an. Da ist wieder dieses Flackern in seinen Augen. Was er zu sagen hat, scheint wirklich dringend zu sein.
«Lass uns ein Stück gehen.» Ich schiebe meine Schultasche von einer Schulter auf die andere.
«Da ist mein Auto», sagt er und nimmt mir, ohne zu fragen, die Tasche ab.
«Was ist mit meinem Unterricht?»
Er hält mir die Tür auf.
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