Schattenblume
auf «Anruf abweisen».
Während Hank ihr die alte Geburtstagsgeschichte erzählte,
von dem Tag, als Lena und ihre Zwillingsschwester Sibyl
bei ihm einzogen und dass es der glücklichste Tag seines Lebens gewesen sei, verließ Lena ihr Zimmer und lief den Flur hinunter. Im Bad sah sie sich noch einmal im Spiegel an. Sie hatte Ringe unter den Augen, doch das würde sich mit ein wenig Make‐up beheben lassen. Nur den violetten
Riss in der Unterlippe konnte sie nicht kaschieren, wo sie zu fest draufgebissen hatte.
Am Spiegel hing ein Foto von Sibyl. Es war ungefähr
einen Monat vor ihrem Tod aufgenommen geworden, und
auch wenn Lena das Bild am liebsten abgenommen hätte –
dies war nicht ihr Haus. Wie jeden Morgen verglich Lena
das Foto ihrer Zwillingsschwester mit ihrem Spiegelbild,
und es gefiel ihr nicht, was sie sah. Als Sibyl starb, hatten sie sich zum Verwechseln ähnlich gesehen. Jetzt waren
Lenas Wangen eingefallen, und ihr Haar war nicht mehr
so dick und glänzend. Sie sah viel älter aus als dreiunddrei‐
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ßig, und mehr als an allem anderen lag das an der Härte in
ihren Augen. Ihre Haut schimmerte nicht mehr wie frü‐
her, doch Lena gab die Hoffnung nicht auf, wieder zu ihrem alten Selbst zu finden. Sie ging jeden Tag joggen, und fast jeden Abend verbrachte sie mit Ethan im Fitness‐Stu-dio und stemmte Gewichte.
Die Warteschleife machte sich piepend bemerkbar, und
Lena knirschte mit den Zähnen. Sie wünschte, sie hätte
Ethan nichts von der verspäteten Periode gesagt. Sie hatte
ihre Tage ohnehin nie regelmäßig bekommen, aber so
spät wie diesmal war sie noch nie dran gewesen. Vielleicht
machte sie zu viel Sport – dabei musste sie doch fit sein für
die Arbeit. In den vergangenen sechs Wochen hatte sie
trainiert wie für einen Marathon. Und Ethan hatte Recht
mit dem Stress. Sie stand tatsächlich unter enormem
Druck in letzter Zeit. Um genau zu sein, seit zwei Jahren.
Lena legte eine Hand vor die Augen. Sie würde jetzt
nicht darüber nachdenken. Letztes Jahr hatte ihr eine ziem‐
lich gute Therapeutin gesagt, dass Verdrängen manchmal
etwas Gutes war. Heute war eindeutig ein Tag für die Scar‐
lett‐O'Hara‐Nummer. Sie würde morgen darüber nach‐
denken. Scheiße, vielleicht auch erst nächste Woche.
Sie unterbrach Hank mit seiner Geschichte, bei der er
ein paar Details ausließ, wie zum Beispiel die Tatsache,
dass er drogensüchtig und Alkoholiker gewesen war, als
das Jugendamt ihm Sibyl und Lena auf den Schoss gesetzt
hatte – und das war noch der schönere Teil der Geschichte.
«Wie ist es am Wochenende gelaufen?»
«Besser als gedacht», sagte Hank zufrieden. Am letzten
Wochenende hatte er seine heruntergekommene Bar am
Rande des miesen Städtchens, in dem Lena aufgewach‐
sen war, als Karaoke‐Bar neu aufgezogen. Angesichts von
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Hanks Stammkundschaft war das ein echtes Wagnis, doch
Hanks Erfolg bestätigte Lenas Theorie, dass besoffene Hin‐
terwäldler zu allem fähig waren, sobald das Licht schwum‐
merig wurde.
«Schätzchen», Hank schlug einen ernsten Ton an. «Ich
weiß, dass heute ein großer Tag für dich ist ...»
«Keine große Sache», unterbrach sie ihn. «Wirklich.»
«Vor mir musst du nicht die Starke markieren», brauste
er auf. Manchmal war er ihr so ähnlich, dass es Lena kalt den Rücken hinunterlief. «Ich wollte nur wissen, ob du
irgendwas brauchst –»
«Alles bestens.» Sie wollte dieses Gespräch nicht schon
wieder führen.
«Lass mich wenigstens ausreden, verdammt nochmal»,
knurrte er. «Ich wollte dir nur sagen, wenn du irgendwas brauchst, ich bin für dich da. Nicht nur Geld und so. Ich bin da für dich.»
«Mir geht es gut», wiederholte sie. Eher würde die
Hölle zufrieren, als dass Lena Hank um irgendetwas bat.
Das Telefon piepte, doch Lena ignorierte es tapfer. Sie
ging in die Küche und hätte sich auf dem Absatz umge‐
dreht, wenn Nan sie nicht am Arm gepackt hätte.
«Alles Gute zum Geburtstag!», rief sie und klatschte
überschwänglich in die Hände. Sie nahm ein Streichholz,
und Lena sah zu, wie sie die einzelne Kerze auf einem
Napfkuchen mit weißem Zuckerguss anzündete. Auf der
Arbeitsplatte stand noch ein ähnlicher Kuchen mit einer
Kerze, den Nan jedoch nicht beachtete.
«Happy birthday to you», stimmte sie an.
Lena sagte zu Hank: «Ich muss aufhören.»
In dem Moment, als sie auflegte, klingelte das Telefon
auch schon wieder. Lena drückte fast
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