Schattenblume
gleichzeitig auf An‐
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nehmen und Auflegen, gerade als Nan fertig gesungen
hatte.
«Danke.» Lena blies die Kerze aus. Sie hoffte nur, Nan
erwartete nicht, dass sie jetzt ein Stück Kuchen aß. Sie hatte das Gefühl, ihr lag ein Backstein im Magen.
«Hast du dir was gewünscht?»
«Ja», sagte Lena, doch was, sagte sie besser nicht laut.
«Ich weiß, dass du zu aufgeregt zum Essen bist.» Nan
schälte den Napfkuchen aus seinem Papier. Lächelnd
schnitt sie sich ein Stück ab. Manchmal war Nans Intui‐
tion richtig unheimlich; als wären sie ein altes Ehepaar.
Nan fragte: «Kann ich irgendwas für dich tun?»
«Nein, danke», sagte Lena und schenkte sich eine Tasse
Kaffee ein. Die Kaffeemaschine war eins von Lenas weni‐
gen Besitztümern in den gemeinsamen Räumen des Häus‐
chens. Meistens blieb sie in ihrem Zimmer, las oder sah
fern auf dem kleinen Schwarzweißgerät, das sie bei der
Kontoeröffnung von der Bank geschenkt bekommen hatte.
Lena war aus schierer Not bei Nan eingezogen, und wie
sehr sich Nan auch bemühte, es ihr gemütlich zu machen,
Lena fühlte sich fehl am Platz. Nan war die perfekte Mit-bewohnerin, wenn man Perfektion ertrug, doch Lena war
an einem Punkt angelangt, da sie sich wieder nach einer
eigenen Wohnung sehnte. Sie wollte einen Spiegel, der ihr
nicht jeden Morgen die Ereignisse der letzten zwei Jahre
ins Gesicht schleuderte. Sie wollte Ethan aus ihrem Leben verbannen. Sie wollte den Backstein in ihrem Magen loswerden. Zum ersten Mal in ihrem Leben wünschte sie sich
ihre Periode.
Wieder klingelte das Telefon. Lena würgte den Anruf
ab.
Nan nahm noch einen Bissen Kuchen und beobach‐
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tete Lena über den Zuckerguss hinweg. Sie kaute langsam,
dann schluckte sie runter. «Wie schade, dass du jetzt Ma-ke‐up trägst. Du hat so schöne Haut.»
Wieder klingelte das Telefon, wieder drückte Lena die
beiden Tasten. «Danke.»
«Weißt du», begann Nan und setzte sich an den Kü‐
chentisch, «ich habe nichts dagegen, wenn Ethan ab und
zu hier übernachtet. Es ist schließlich auch deine Woh‐
nung. »
Lena versuchte zurückzulächeln. «Du hast Zuckerguss
an der Lippe. »
Nan tupfte sich den Mund mit einer Serviette ab. Sie
hätte sich den Krümel niemals mit der Hand abgewischt
oder abgeleckt. Nan Thomas war der einzige Mensch, den
Lena kannte, bei dem zu Hause ein Serviettenspender auf
dem Tisch stand. Auch Lena war eine reinliche Person und schätzte Ordnung, aber die Art, wie Nan Dinge nicht einfach wegräumen konnte, nervte sie. Für alles hatte sie ein Hakeldeckchen, am besten mit Troddeln oder Teddybären
verziert.
Nan hatte den Kuchen aufgegessen und wischte mit der
Serviette die Krümel vom Tisch. Schweigend sah sie Lena
an. Wieder klingelte das Telefon.
«Also», sagte Nan. «Großer Tag heute. Ein neuer An‐
fang.»
Lena drückte die beiden Tasten. «Ja.»
«Glaubst du, sie geben eine Party für dich?»
Lena lachte schnaubend. Frank und Matt ließen keinen
Zweifel daran, dass Lena nicht mehr dazugehörte. Und in
letzter Zeit hatte sie immer häufiger überlegt, ob die beiden nicht sogar Recht hatten. Aber heute Morgen, als sie sich das Holster umlegte und die Handschellen am Gürtel
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befestigte, hatte Lena das Gefühl, dass ihr Leben endlich wieder in geordnete Bahnen geriet.
Das Telefon klingelte, Lena drückte die Tasten. Sie ver‐
suchte Nans Reaktion zu sehen, doch Nan war damit be‐
schäftigt, das Papier des Napfkuchens zu einem winzigen
ordentlich Quadrat zu falten, als hätte sie nichts bemerkt.
Falls Nan Thomas sich je entschloss, Cop zu werden, wür‐
den die Verbrecher bei ihr Schlange stehen, um ein Ge‐
ständnis abzulegen. Sollte sie sich dagegen für die kriminelle Laufbahn entscheiden, würde ihr nie jemand auf die
Schliche kommen.
«Jedenfalls», fuhr Nan fort, «gibt es keinen Grund, dass
du ausziehst. Ich habe dich gerne hier.»
Lena betrachtete den einsamen Napfkuchen auf der Kü‐
chentheke. Nan hatte zwei gekauft: einen für Lena und
einen für Sibyl.
«Im Doppelpack waren sie billiger», sagte Nan, doch
dann gestand sie: «Nein, das war gelogen. Sibyl hat Napfkuchen geliebt. Die einzige Süßigkeit, der sie verfallen
war. Ich habe für beide den vollen Preis bezahlt.»
«Hab ich mir gedacht.»
«Tut mir Leid.»
«Du musst dich nicht entschuldigen.»
«Jaja, ich weiß.» Nan ging zum Mülleimer, der mit grü‐
nen und gelben Häschen dekoriert war, passend zu
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