Schattenblume
sich nach hinten und suchte auf dem Rücksitz nach der Plastikdose, die ihre Mutter ihr eingepackt hatte. «Ich glaube, es gibt auch Kekse, wenn Tessa sie nicht geklaut hat.»
«Das wäre nett», sagte er und kitzelte sie am Oberschenkel. «Schade, dass wir keinen Tee haben.»
Sara versuchte seine Hand zu ignorieren. «Wir könnten eine Teepause einlegen.»
«Vielleicht.»
Jetzt zwickte er sie, worauf sie ihm auf die Finger klopfte. «Hey.»
Er lachte über die Maßregelung. «Hättest du was dagegen, wenn wir einen kleinen Umweg machen?»
«Nein», sagte sie und fand die Dose unter einem Kissen. Sie kletterte wieder auf den Sitz zurück, als er gerade ein Wohnmobil überholte. «Wohin denn?»
«Sylacauga.»
Beim Öffnen der Plastikbox hielt sie inne. «Silla-was?»
«Sylacauga», wiederholte er. «Meine Heimatstadt.»
KAPITEL VIER
10.15 Uhr
« M a-att?», sagte jemand. Es klang wie ein Stottern. «M-a-a-a-a-att?»
In seinen Ohren hallte es, was das Wort noch mehr in die Länge zog.
«M-a-a-a-a-a-a-att?»
Er versuchte sich zu bewegen, doch seine Muskeln gehorchten ihm nicht. Aus unerfindlichen Gründen taten seine Finger weh. Sie waren kalt. Alles war kalt.
«Matt», sagte Sara, ihre Stimme war plötzlich stechend wie eine Nadel. «Matt, wach auf.» Sie nahm sein Gesicht in beide Hände. «Matt.»
Er zwang sich, die Augen zu öffnen. Er sah erst alles verschwommen, dann doppelt. Er sah zwei Saras, die sich über ihn beugten. Zwei Marlas. Zwei Kinder, die er nie zuvor gesehen hatte. Alle waren riesig, wie durch ein Vergrößerungsglas gesehen. Die Deckenfliesen waren noch größer, wie fliegende Untertassen mit gigantischen Neonröhren.
Er versuchte sich aufzusetzen.
«Nein, Matt.» Sara hielt ihn zurück. «Nicht.»
Er fasste sich an den Kopf, der sich anfühlte, als steckteer in einem Schraubstock. Seine rechte Schulter brannte, als würde sich ein glühender Schürhaken durch sein Fleisch bohren. Er wollte seine Schulter betasten, doch Sara hielt ihn davon ab.
«Matt», sagte sie. «Nicht.»
Er fuhr mit der Zunge durch den Mund, schmeckte Blut.
Als sie ihm das Haar aus dem Gesicht strich, sah er ein goldenes Funkeln an ihrem Finger. Sie trug seinen College-Ring. Warum trug sie seinen College-Ring?
«Matt?»
Er blinzelte, in seinen Ohren klingelte es leise. Jeffrey presste die Augen zusammen und versuchte sich zu orientieren. Das Klingeln kam vom Telefon auf Marlas Schreibtisch. Das Blut in seinem Mund kam von einer Wunde an seinem Kopf.
«Matt?», wiederholte Sara. «Kannst du mich hören?»
Er sagte: «Warum –»
Sie setzte ihm eine Flasche Wasser an die Lippen. «Trink. Du brauchst Wasser.»
Jeffrey trank und spürte, wie die kühle Flüssigkeit seiner trockenen Kehle wohl tat. Wasser rann ihm übers Kinn, als er mit dem Schlucken nicht mitkam.
«Gut», sagte er und schob ihre Hand weg.
Er schloss wieder die Augen, versuchte den Blick klar zu bekommen. Als er sie wieder öffnete, verschmolzen die beiden Marlas zu einer. Ihre Wangen waren eingefallen, ein Auge war violett verfärbt und blutete. Daneben kauerten tatsächlich zwei Kinder, beide mit dem gleichen Ausdruck im Gesicht. Ein drittes Kind lehnte sich an Sara, keuchend versuchte das Mädchen, seine Angst zu beherrschen.
Jeffrey blickte wieder zu Sara. Er hatte sie noch nie so in Angst gesehen. Sie sah ihm tief in die Augen, als versuchte sie ein Loch in ihn hineinzustarren, ihm einen Gedanken ins Hirn zu treiben.
Langsam nickte er. Er sollte Matt sein.
Sie fragte wieder: «Gut?»
«Ja.» Er sah sich um und versuchte sich zusammenzureimen, was hier los war. Sie lagen auf dem Boden im hinteren Teil des Mannschaftsraums, um sie herum war alles leer. Brad stapelte vor der Brandschutztür Aktenschränke aufeinander. Jeffreys Bürofenster und -tür waren ähnlich verbarrikadiert. Um sie herum zwischen den Trümmern lagen Leichen. Burrows, Robinson, Morgan. Morgan war Vater von fünf Kindern. Burrows war ein großer Tierfreund und hatte zwei ausgesetzte Greyhounds bei sich aufgenommen. Robinson … Robinson war neu. Jeffrey erinnerte sich nicht einmal an seinen Vornamen, obwohl er ihn vor knapp einer Woche eingestellt hatte.
Jeffrey wurde schwindelig, er schloss die Augen, Übelkeit stieg in ihm auf.
«Ruhig atmen», redete Sara auf ihn ein, während sie ihm das Haar zurückstrich. Sein Kopf lag in ihrem Schoss, und nach dem Blut auf ihrem Kleid zu urteilen, lag er schon eine Weile so da. Jeffrey versuchte sich zu
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