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Schattenbruch

Schattenbruch

Titel: Schattenbruch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markolf Hoffmann
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Luft. Eine unheimliche Ausstrahlung ging von der Inselgruppe aus, die so weit entfernt von aller Zivilisation lag. Jundala fröstelte es; zugleich spürte sie einen bohrenden Schmerz in ihrem Schädel. Als sie die Augen niederschlug, verebbte er, um dann mit neuer Stärke einzusetzen. »Habt keine Angst.« Mhadags Stimme klang tröstend. »Es dauert eine Weile, bis wir uns an ihre Nähe gewöhnt haben.«
    Jundala preßte die Fäuste gegen ihre Stirn, um die Qual zu lindern. Rote Punkte tanzten vor ihren Augen; doch sie hielt dem Druck stand, zwang sich, den Blick erneut auf die Inseln zu richten. Die Küstenlinien schienen sich zu bewegen, barsten mal wie splitterndes Glas, um dann wieder als weiche Masse zusammenzufließen - oder war dies Einbildung? Erschrocken starrte sie auf das Wasser.
    Nun bemerkte sie neben sich eine Bewegung, und eine Stimme war zu hören, flüsternd, drängend, verzückt. »Die vier Dunklen Warte, gezeugt von den Wellen; Verkünder der Zukunft, so düster und kalt.« Eine zweite Stimme fiel ein: »Wir spürten und fanden die Boten der Rettung; die Suche, die Suche, sie endet schon bald.« Als Jundala sich umsah, erblickte sie die Südsegler, ein knappes Dutzend stand hinter der Fürstin, ihre Augen wie immer verbunden. Jundala hatte weder ihre Schritte noch ihren Atem gehört. Wie hatten sie so rasch an Bord kommen können? Nie zuvor hatte sie so viele Südsegler zugleich gesehen, und nie zuvor am hellichten Tag. Die Sonne mied ihre Körper; die weiße Haut der Hände und Wangen reflektierte die Strahlen nicht, war glanzlos, stumpf. Jundalas Herz zog sich zusammen, als sie bemerkte, daß keiner der Männer einen Schatten warf. Ihre Augen brannten, als sie wieder auf die Inseln blickte; durch einen Tränenschleier erkannte sie die vier Dunklen Warte - und einen fünften, größeren Punkt, der auf dem Wasser auf sie zusteuerte. Jundala kniff die Augen zusammen.
    »Mhadag … ich kann nicht sehen … ich kann nichts erkennen …«
    Der Knabe hielt ihre Hand und streichelte sie, doch er gab keine Antwort. Nur die Stimmen der Südsegler waren zu hören; sie sprachen im Chor. »Wir folgten den Worten der Weisen von Yptir, wir suchten den Schlüssel in Varas Verlies; wir flochten die Barke der Schwarzen Erkenntnis, die uns der Retter in Vara verhieß.« Sie drängten an Jundalas Seite; sie spürte ihre Nähe und spürte sie nicht, sah aus den Augenwinkeln ihre fahlen Gesichter und sah sie nicht; starrte auf den Punkt, der näher und näher kam: dunkler als jeder Schatten, alles Licht verneinend: ein riesiges Schiff, seine Form langgestreckt wie eine Barke, gefertigt aus einem ihr fremden Material, porös und von widernatürlicher Schwärze. »Was ist das? Was …« Jundalas Stimme versagte.
    Wie aus weiter Ferne hörte sie Mhadags Antwort. »Das Schiff, das uns in die neue Zeit bringt; zu den letzten Ufern, die den Menschen noch bleiben.«
    Jundala schloß die Augen. Wie heißes Blei tropfte der Schmerz in ihr Hirn, und ihr Angstschrei gellte über das Meer wie zuvor die Klagen der Silberfänger.

KAPITEL 3
Lichter
    Still lag der See; sein Wasser eine pechschwarze Fläche, auf die der Wind zaghaft sein Muster zeichnete. Die gekräuselten Wellen reflektierten den Feuerschein, der aus Eisenkörben am Seeufer drang - ein bläuliches Licht, zu dunkel, um die Schatten der Nacht zu vertreiben. Überall in Varas Häuserfluchten schwelten die Feuerkörbe; sie wurden von der Gemeinschaft der Flammenhüter entzündet. Seit Sonnenuntergang drehten sie ihre Runden. Gelegentlich waren in der Dunkelheit ihre schwankenden Laternen zu sehen, begleitet vom Scharren der Speerschäfte auf dem Pflaster.
    Inmitten des Sees lag eine künstliche Insel. Auf ihr erhob sich ein ovaler Turm: Gendor, der Stammsitz der Familie Geneder, entworfen von dem genialen Baumeister Sardresh von Narva. Fackeln tauchten ihn in Zwielicht; der kupferne Dachfirst glomm in der Finsternis wie Feuersglut. Aus dem obersten Fenster - es gehörte zum Turmzimmer - blickte Baniter Geneder auf das nächtliche Vara; sein Gesicht bleich, Kinn und Wangen von Bartschatten umgeben, die grünen Augen freudlos, und der Mund, der sonst von Spottlust kündete, voller Verbitterung zusammengepreßt.
    Einundsechzig Tage waren seit der Thronratssitzung verstrichen, der letzten Zusammenkunft des Silbernen Kreises. Baniter hatte jeden Tag gezählt, jeden einzelnen … einundsechzig Tage, seit die Fundamente des Kaiserreiches für immer zerstört worden waren.

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